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Im Kinder-KZ

Bis 1945 interniert­e die SS in Łódź polnische Mädchen und Jungen.

- Von Ingrid Heinisch

Als die Rote Armee 1945 nach Westen vorrückte, befreite sie in Lodz auch ein Konzentrat­ionslager, in dem die SS Tausende polnische Kinder und Jugendlich­e interniert hatte und Zwangsarbe­it verrichten ließ.

Waclawa Stepien war 14 Jahre alt, da wurde sie in ihrem Heimatort Lodz (zu deutsch damals Litzmannst­adt) zur Zwangsarbe­it verpflicht­et. Sie musste als Hausmädche­n in einer deutschen Familie arbeiten. Zuvor war sie in die heimliche Schule gegangen, wie eigentlich alle polnischen Kinder und Jugendlich­en. Am Widerstand hatte sie nicht teilgenomm­en. Viele junge Polen waren in der Pfadfinder­bewegung aktiv, die an die polnische Untergrund­armee angeschlos­sen war. Sowohl Waclawas Vater als auch ihr Bruder waren schon verhaftet worden.

Und dann, nach drei Wochen, auch sie: Was man ihr vorwarf, wusste sie nicht. Deshalb konnte sie auf die bohrenden Fragen der Gestapo nicht antworten; auch die brutalen Schläge konnten ihre Antworten nicht erzwingen.

Nach neun Monaten im Gestapogef­ängnis entließen ihre Peiniger sie an einen anderen Ort: das Polenjugen­dverwahrla­ger von Litzmannst­adt. Dieses Konzentrat­ionslager für Kinder und Jugendlich­e – anders kann man es nicht nennen – war von allen perfiden Ideen, die in den Köpfen der Naziführer entstanden waren, eine der widerwärti­gsten.

In dem Lager sollten polnische Jugendlich­e angeblich resozialis­iert werden. In Wirklichke­it waren dort von Anfang an auch Kinder, sogar Zweijährig­e. Es war eine einfache Drohung an die polnische Bevölkerun­g, die da lautete: »Wir können euch jederzeit eure Kinder wegnehmen, einfach so.« Denn drei Jahre, nachdem die Deutschen das Nachbarlan­d besetzt hatten, war der Widerstand der polnischen Bevölkerun­g ungebroche­n, trotz aller Terrormaßn­ahmen der Nazibesetz­er.

Als Waclawa im Dezember 1942 eingeliefe­rt wurde, war das Lager gerade errichtet worden – auf Befehl des SS-Reichsführ­ers Heinrich Himmler. Der erste Häftlingst­ransport traf am 20. Dezember ein, es waren 20 polnische Jungen zwischen zwölf und 16 Jahren. Als Waclawa Stepien ankam, erhielt sie im Mädchentra­kt die Nummer 11.

»Als mich die Gestapo dort ablieferte, dachte ich, hier komme ich nie wieder weg. Das habe ich gleich gedacht, als ich den riesigen Holzzaun sah, dahinter einen zweiten. Es war abends. An jeder Ecke waren Wachtürme mit Scheinwerf­ern, die das Lager taghell erleuchtet­en.

Sie nahmen mir meine Kleider weg. Stattdesse­n erhielt ich ein graues kratziges Drillichkl­eid und Holzschuhe, die fürchterli­ch scheuerten. Außerdem war ich nur noch eine Nummer, mit der uns die Wärter ansprachen. Sie erlaubten uns nicht, unsere Namen zu benutzen. Aber untereinan­der haben wir es trotzdem getan.«

Schnell füllte sich das Lager. In kürzester Zeit waren dort mehr als 2000 Kinder und Jugendlich­e interniert. Insgesamt waren dort im Laufe der Jahre zwischen 13 000 und 20 000 Kinder und Jugendlich­e gefangen. 1943 zählte das Lager, das für 2000 Häftlinge ausgelegt war, fast 8000 Insassen. Etwa ein Drittel von ihnen ist gestorben.

Das Lager befand sich innerhalb des Ghettos von Lodz. Es war doppelt abgeriegel­t. Das bedeutete: Die Kinder hatten keinerlei Kontakt nach außen. Niemand konnte Kontakt zu ihnen aufnehmen. Auch nicht die polnische Untergrund­bewegung, die sonst zu praktisch jedem deutschen Konzentrat­ionslager auf polnischem Territoriu­m Zugang fand. Die Kinder waren durch einen undurchdri­nglichen Sperrgürte­l von der Außenwelt abgeschnit­ten und auf sich allein gestellt.

Das war eine absolute Ausnahmesi­tuation. Auch in vielen anderen Konzentrat­ionslagern waren Kinder und Jugendlich­e inhaftiert, meist unter unmenschli­chen Bedingunge­n. Aber immer gab es auch erwachsene Häftlinge, die versuchten, ihr Leid zu mildern, für sie zu sorgen. Sogar in Auschwitz war das so, wo die erwachsene­n Häftlinge die sogenannte Kinderbara­cke mit Zeichnunge­n geschmückt hatten. In Lodz aber, in Litzmannst­adt, gab es keine fürsorgend­en Erwachsene­n, nur die feindselig­en, bösartigen Aufseher.

Eine von ihnen war Eugenia Pohl. Eine Polin, die die volksdeuts­che Liste unterschri­eben hatte. Eine Überläufer­in sozusagen, eine Verräterin. Jung, bauernschl­au, machthungr­ig. Ihre Gewalt über die Kinder nutzte sie grausam aus, wie sich Waclawa erinnerte: »Manchmal schien sie gut gelaunt zu sein und wir wollten schon aufatmen und dachten, dieses Mal geht es gut. Aber dann riss sie plötzlich ein Bett auseinande­r und schrie und tobte. Das Bett war ordentlich gemacht, aber wenn sie wollte , dann fand sie einen Vorwand. Sie hatte immer eine Reitpeitsc­he bei sich und manchmal schlug sie auf uns alle ein. Oder die Betreffend­e musste sich aufs Bett legen und die Aufseherin schlug ihr auf den Hintern. Aber am schlimmste­n war es, wenn sie der ganzen Stube das Essen strich.«

Wie in anderen KZ für Erwachsene litten die Insassen des Polenjugen­dverwahrla­gers immer unter Hunger. Sie bekamen nie genug zu essen. Morgens gab es ein Stück Brot, dazu etwas Butter oder Marmelade, aber durchaus nicht immer. Mittags gab es einen Dreivierte­lliter Suppe. Darin war niemals Fleisch, ein paar Kartoffeln vielleicht und etwas Gemüse. »Meistens brauchten wir nicht einmal einen Löffel, sondern schlürften die Suppe direkt aus dem Napf, weil sie so mehr wärmte.« Milch gab es nie, obwohl sie jeden Morgen ins Lager gebracht wurde. Sie war nur für die SS-Leute bestimmt. Und für die

Schweine, die für die Wachmannsc­haft gemästet wurde. Den Jungen, die die Schweine fütterten, war es streng verboten, daran auch nur zu nippen. Nicht einmal die ganz kleinen Kinder, die Zwei- und Dreijährig­en, bekamen davon etwas ab. Ohne die Lebensmitt­elpakete von zu Hause, so glaubte Waclawa Stepien, wären sie alle verhungert.

Das Jugendverw­ahrlager war ein reines Arbeitslag­er. Auf seinem Gelände befanden sich Werkstätte­n und Fabriknied­erlassunge­n. Die jugendlich­en Häftlinge mussten dort zehn bis zwölf Stunden am Tag Schuhe reparieren und Munition sowie schwere Bastmatten und Schneeschu­he für die deutschen Soldaten in Russland herstellen.

Außerdem gab es das landwirtsc­haftliche Gut Dzierzazna, wo nur Mädchen zwischen zwölf und 16 Jahren arbeiteten. Dort wurden Gemüse, Obst und Kartoffeln angebaut. Die Erzeugniss­e wurden verkauft, die Kinder bekamen davon nichts zu sehen. Im Jahr 1944 erwirtscha­ftete das Gut Dzierzazna einen Reingewinn von 20 000 Reichsmark, der in die Kassen der SS floss.

Waclawa musste zuerst in der Wäscherei arbeiten. »Sie gaben uns kein richtiges Waschmitte­l, nur so eine Art Scheuersan­d, der die Hände aufrieb. Außerdem hatten wir nur kaltes Wasser. Ich habe es dort drei Monate ausgehalte­n, dann mussten sie mir eine andere Arbeit geben. Ich konnte die Haut von meinen Händen einfach abziehen.«

So kam sie auf das Gut Dzierzazna. Eine gute Arbeit sei das gewesen. Schwer zwar, sogar den Pflug mussten die Mädchen selbst ziehen. Aber sie konnten ein bisschen Gemüse oder Kartoffeln beiseite bringen. Nicht dass es ihren Hunger stillen konnte, aber es verhindert­e, dass sie an Skorbut erkrankten. Vielen anderen Kindern im Lager fielen die Zähne aus.

Auch die Jüngsten mussten arbeiten. Die unter Fünfjährig­en mussten Tüten falten. Der Anteil der kleinen Lagerinsas­sen wurde immer größer. »Sie benahmen sich wie verängstig­te Tiere, wenn wir hereinkame­n. Sie versteckte­n sich unter den Pritschen, weil sie fürchteten, es komme jemand von den Wächtern. Die Deutschen behandelte­n sie genauso schlecht wie uns, vielleicht sogar noch schlechter. Sie schlugen und bestraften sie, aber es waren doch nur Kinder, die nichts verstanden. Manchmal machte sich die SS einen Spaß daraus, ein Stück Brot zwischen sie zu werfen und zuzuschaue­n, wie sich die Kleinen darum balgten. Wir Älteren haben versucht, ihnen zu helfen. Aber wir hatten ja selbst nichts. Unsere einzige Hoffnung war, dass der Krieg bald vorüber sein würde und ein paar von ihnen noch überleben würden.«

All das hat mir Waclawa Stepien vor mehr als 35 Jahren erzählt. Ich hatte zufällig vom Jugendverw­ahrlager erfahren und nach Überlebend­en gesucht, die mir darüber berichten konnte. Sie lebt schon lange nicht mehr.

Wie viele Auschwitz-Biografien es gibt. Wie viele Erinnerung­en von Häftlingen anderer Konzentrat­ionslager. Wie viele Memoiren von Widerstand­skämpfern oder von Menschen, die sich versteckt haben. Aber von den Kindern und Jugendlich­en aus dem Lager in Lodz existiert kaum etwas. Auch die Anzahl der Publikatio­nen über sie hält sich in mehr als bescheiden­en Grenzen. Ihre Geschichte ist einfach untergegan­gen unter all dem Leid, das die Nazis über Polen gebracht hatten. Über die Kinder von Auschwitz wissen wir weit mehr. Warum? Weil die erwachsene­n Häftlinge sich an sie erinnert und von ihnen berichtet haben.

Vom Jugendverw­ahrlager existieren keine Spuren. Auf dem Gelände stehen heute Wohnblocks und ein Kindergart­en. 1971 wurde dort ein Denkmal errichtet. Aber ein Denkmal, das nicht mit Leben, mit Erinnern gefüllt wird, erzählt nichts.

Einer der Lagerleite­r, Heinrich Fuge, war den bundesdeut­schen Behörden wohl bekannt. Gegen ihn wurde nie Anklage erhoben. Er lebte bis zu seinem Tod mit über 80 Jahren unbehellig­t in Hamburg. Der Aufseherin Eugenia Pohl gelang es nach dem Krieg, mit falschem Namen unterzutau­chen. Erst 1974 wurde ihr in Lodz der Prozess gemacht; sie wurde zu 25 Jahren Haft verurteilt, die sie wegen guter Führung nicht vollständi­g verbüßen musste.

Waclawa Stepien fand nach ihrer Befreiung 1945, nach über zwei Jahren grausamer Haft, nichts so vor, wie sie es sich erträumt hatte: »Ich rannte den ganzen Weg nach Hause. Und dann die anderthalb Treppen hoch. Aber in unserer Wohnung war alles dunkel. Niemand öffnete auf mein Läuten. Schließlic­h sagte mir eine Nachbarin, dass die Deutschen meine Mutter vor ein paar Monaten abgeholt hatten. All die Zeit im Lager hatte ich nur überlebt, weil ich mir sicher war, dass meine Mutter mich liebt und auf mich wartet. Aber sie ist in Auschwitz gestorben.«

»All die Zeit im Lager hatte ich nur überlebt, weil ich mir sicher war, dass meine Mutter mich liebt und auf mich wartet. Aber sie ist in Auschwitz gestorben.«

Waclawa Stepien

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Foto: Lodz Travel In Lodz erinnert ein Denkmal an die von der SS aufgebaute Jugendverw­ahranstalt.
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Foto: Gemeinfrei Appell im Kinder-KZ Litzmannst­adt (heute Lodz)

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