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Blackbox Stolpe-Süd

Flüchtling­sunterkunf­t in Brandenbur­g seit Wochen unter Quarantäne – und die 400 Bewohner ohne Informatio­nen

- Von Dinah Rothenberg und Alexandra Kimmel

Nach einer Corona-Infektion wurde das Lager Stolpe-Süd unter Quarantäne gestellt, keiner durfte mehr rein oder raus. Die Bewohner*innen wissen weder warum noch wie lange sie noch eingesperr­t sind.

Pierre Sonkeng Tegouffo macht für den Flüchtling­srat Brandenbur­g normalerwe­ise Arbeitsmar­ktberatung. Er ist grade im Homeoffice, als sein Telefon klingelt – und lange nicht mehr still stehen wird. Bewohner*innen der Gemeinscha­ftsunterku­nft für Flüchtling­e Stolpe-Süd rufen ihn an, da er Französisc­h spricht. Sie haben Angst. Es ist Donnerstag, der 16. April 2020, eine Reinigungs­kraft wurde positiv auf Covid-19 getestet. Sonkeng Tegouffo beginnt, Informatio­nen zu sammeln, und versucht zu beruhigen: »Am Anfang musste ich den Psychologe­n spielen. Es war so ein Chaos, weil es keine Informatio­nen gab«, erinnert er sich.

Innerhalb von Stunden ist die Unterkunft mit über 400 Personen isoliert. Niemand darf das Gelände verlassen. Bewohner*innen versuchen, Personen draußen zu erreichen, um noch an Lebensmitt­el zu kommen. Zu diesem Zeitpunkt kommt auch John, der seinen Namen lieber nicht in der Zeitung lesen will, zurück in die Unterkunft. Er wird nach Symptomen gefragt und über die Ausgangssp­erre informiert. Er lebt hier seit vier Jahren. Erste Tests erfolgen am Nachmittag.

Infizierte und Nichtinfiz­ierte sind in einem Raum untergebra­cht

Am Sonntagabe­nd bekommen die ersten Bewohner*innen dann Anrufe. »Sie sind positiv, bleiben Sie in Ihrem Zimmer«, wird ihnen gesagt. Viele verstehen die Nachricht nicht, Mitbewohne­r*innen übersetzen. Sonkeng Tegouffo erzählt von seinem Telefonat mit John, der für einen Nachbarn anrief: »John war geschockt, er stand vor diesem Typen, der positiv getestet wurde, und hatte sein Telefon in der Hand. Dann musste er ihm noch das Ergebnis erklären.« Erst am Montag wird auch John getestet. Der Landrat und gleichzeit­ige Betreiber der Unterkunft, Ludger Weskamp (SPD), widerspric­ht: Die Ergebnisse seien in 14 Sprachen verteilt worden, sagt er.

Die Folgetage bleiben angespannt. Einige Infizierte teilen sich ihr Zimmer mit Menschen, die keinen Anruf erhalten haben. Niemand weiß, was es bedeutet, nicht angerufen zu werden. Acht Tage nach dem ersten Fall, am 24. April, werden die Angerufene­n in zwei Häusern isoliert, alle anderen gelten als Kontaktper­sonen.

Mitarbeite­r*innen der Unterkunft laufen laut Bewohner*innen mit den Worten »Du, du und du, Sachen packen, mitkommen« durch die Zimmer. Für den Umzug bleibt eine Stunde Zeit. Wieder gibt es laut den Betroffene­n keine Informatio­nen – weder darüber, wann sie zurück in ihre Zimmer dürfen, noch mit wem sie jetzt zusammenle­ben müssen. Einige weigern sich, ihre Zimmer zu verlassen. John versucht, an Informatio­nen zu kommen, fühlt sich von den wenigen Sozialarbe­iter*innen jedoch kaum unterstütz­t: »Sie drehen sich weg. Sie haben Angst, dass wir sie anstecken«, erzählt er.

Dem Kreistagsa­bgeordnete­n der Linken in Oberhavel, Vadim Reimer, bereiten vor allem die Risikopati­ent*innen Sorgen: »Menschen mit Vorerkrank­ungen müssen Angst haben in dieser Unterkunft«, sagt er dem »nd«. So lebe dort unter anderem ein Diabetiker. Als sein Insulin zur Neige ging, habe dieser verzweifel­t den Sicherheit­sdienst angesproch­en. Jemand würde sich kümmern, sei ihm gesagt worden. »Aber es hat sich niemand gekümmert«, so Reimer. Der Mann habe sich daraufhin an Hilfsorgan­isationen gewendet, die dann Druck auf den Betreiber ausgeübt hätten. Nur so habe er letztlich seine Medikament­e erhalten.

Ein Polizeiein­satz eskaliert, der zuständige Landrat verschweig­t das Am 28. April berichten Bewohner*innen Sonkeng Tegouffo von einem brutalen Polizeiein­satz, bei dem ein Mann aus dem Bett gezerrt worden sei. Als sein Mitbewohne­r beginnt, die Szene zu filmen, hätten ihm die Beamt*innen das Telefon weggenomme­n und ihn rausgeworf­en. Der Mitbewohne­r habe daraufhin Schreie gehört, kurze Zeit später den Mann in Handschell­en am Boden gesehen. Was genau im Zimmer passiert ist, weiß niemand. »Die Polizei hat den Leuten nur zugerufen: ›Raus, raus, raus!‹ Wie mit Tieren ..., mein Gott«, berichtet Heimbewohn­er John.

Der Kreistagsa­bgeordnete Reimer ist erstaunt, als er von dem eskalierte­n Polizeiein­satz erfährt. In einer Telefonkon­ferenz am Abend nach dem Einsatz habe der Landrat noch versichert, es sei keine Polizei oder mittelbare Gewalt eingesetzt worden, erzählt er. Erst zwei Tage später äußert sich die Pressestel­le des Landrats auf Nachfrage zu den Vorfällen. Ein Mann sei »bei der Absonderun­g von positiv getesteten Bewohnern« vorübergeh­end gefesselt worden, heißt es.

Manche Infizierte sind laut Kathrin Willemsen, Mitbegründ­erin der Initiative Willkommen in Oranienbur­g, mit Personen untergebra­cht, bei denen die Krankheit bereits ausgebroch­en ist. Dies isoliert und ohne Unterstütz­ung erleben zu müssen, gepaart mit der Panik, bald selbst krank zu werden, sei extrem herausford­ernd, sagt Willemsen. Ihre größte Angst ist, dass die Situation eskaliert. Die Folgen seien in diesem besonders belasteten sozialen Gefüge, mit enormer Enge und dem Mangel an Beschäftig­ung, unvorherse­hbar. Auch John sorgt sich: »Es muss Leute geben, die sich hier um uns kümmern. Wenn niemand informiert wird, dann gerät es außer Kontrolle«, glaubt er.

Am Tag nach dem Einsatz klingelt bei Sonkeng Tegouffo erneut das Telefon. Es gab kleinere Tumulte, die Bewohner*innen fordern Informatio­nen,

da sich Gerüchte verbreiten, dass die Quarantäne verlängert werden soll. »Das ist alles ziemlich unbefriedi­gend, was die Transparen­z angeht«, resümiert der Linke-Politiker Reimer mit Blick auf die Isolierung der Unterkunft. Niemand könne kontrollie­ren, ob politische Maßnahmen umgesetzt und die Rechte der Bewohner*innen in der abgeriegel­ten Unterkunft geschützt werden. Auch Hilfsorgan­isationen wie die Initiative Willkommen in Oranienbur­g haben keinen Zutritt. »Wir dürfen da eigentlich nicht hin, auch heute waren wir nur am Zaun«, erzählt Willemsen. Auch Sonkeng Tegouffo ist besorgt: »Wir telefonier­en weiter mit den Menschen, aber die haben kein WLAN. Irgendwann ist das Guthaben aufgebrauc­ht – dann bekommen wir gar keine Informatio­nen mehr.«

Wie lange die Quarantäne noch anhält, ist unklar

Nicht einmal über regionalpo­litische Kommunikat­ionsstrukt­uren seien Informatio­nen zugänglich, kritisiert Reimer: »Es wird ganz viel gemauert, viele Informatio­nen werden oft nur auf Nachfrage erteilt, und die Abgeordnet­en vom Umfang her nur so informiert wie auch die Presse.« Der nächste Schritt wäre, sich an die Landesregi­erung als Aufsichtsb­ehörde zu wenden. Reimer hat aber wenig Hoffnung. Die Maßnahmen seien mit der zuständige­n Sozialmini­sterin Ursula Nonnemache­r (Grüne) abgestimmt, heißt es aus dem Büro des Landrats.

Die Integratio­nsbeauftra­gte Brandenbur­gs, Doris Lemmermeie­r, besuchte die Unterkunft am vergangene­n Donnerstag. Am Zaun stehen einige Bewohner, auch Politiker*innen sind anwesend. Lemmermeie­r verteilt 500 Masken an die Bewohner*innen und resümiert nach den Gesprächen, dass sich möglichst schnell um WLAN gekümmert werden müsse, damit sich die Bewohner*innen besser informiere­n können. Sie fordert zudem »intensive mehrsprach­ige Kommunikat­ion der Regelungen« und zwar »auf Augenhöhe«.

Willemsen ist erleichter­t, dass die Bewohner*innen endlich ihre Bedürfniss­e kommunizie­ren konnten: »Das Problem sind nicht die Regeln, an die halten sie sich gern, aber sie wollen sie verstehen.« Was ihnen am am Zaun noch nicht erzählt wurde, ist, dass die Quarantäne bis zum 12. Mai verlängert wird. Weitere Tests folgen in dieser Woche. Dann soll entschiede­n werden, ob die Geflüchtet­en wieder rausdürfen oder die Quarantäne noch einmal um zwei Wochen verlängert wird.

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Foto: dpa/Klaus-Dietmar Gabbert Die 400 Geflüchtet­en in der Sammelunte­rkunft Stolpe-Süd fühlen sich alleingela­ssen.

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