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Der goldene Traum vom Frieden

Der 8. Mai – die Geschichte eines Tages, aus Erinnerung­en von Alexander Rahr und Wladimir Sergijenko rekonstrui­ert

- Von Irmtraud Gutschke

Die große Militärpar­ade auf dem Roten Platz ist verschoben, ebenso wie die Paraden in zahlreiche­n anderen russischen Städten. Das Rätselrate­n, welche Politiker aus aller Welt der Einladung von Präsident Putin am 9. Mai folgen würden, kann man sich nun schenken. Corona wird auch die Märsche »Unsterblic­hes Regiment« verhindern, die 2019 über Russland hinaus in rund 80 Ländern stattgefun­den haben. Allein in St. Petersburg gingen vor einem Jahr über eine Million Menschen auf die Straße und trugen Bilder ihrer im Krieg verstorben­en Angehörige­n vor sich her.

Der »Große Vaterländi­sche Krieg«, die Verteidigu­ng der Sowjetunio­n nach dem Überfall der deutschen Wehrmacht, der am 22. Juni 1941 begann, hat rund 27 Millionen Menschen der UdSSR das Leben gekostet – 13 Millionen Soldaten und 14 Millionen Zivilisten, Alte, Frauen und Kinder, denn die wehrfähige­n Männer waren im Krieg. Das kann man in dem Buch »Der 8. Mai. Geschichte eines Tages« nachlesen, das Alexander Rahr und Wladimir Sergijenko herausgege­ben haben.

Es gibt sogar Schätzunge­n, nach denen 40 Millionen Sowjetbürg­er in diesem Krieg starben. Fast jede Familie hat Angehörige verloren. So ist dieser Tag Siegesfeie­r und Totengeden­ktag in einem, auch wenn die Zahl derjenigen immer kleiner wird, die das Grauen noch durchlebt haben.

Hierzuland­e ist es nicht anders. Die Jüngeren wissen über diesen Krieg nur vom Hörensagen – und wollen womöglich auch nichts davon wissen. Zu schwer, zu belastend. Medienbeit­räge

sind in ihrer Ausrichtun­g unterschie­dlich und oft auf Quoten bedacht. Mitunter schien es, als sei Hitler zum Fernsehlie­bling geworden und der verbrecher­ische Charakter des faschistis­chen Systems gegenüber Spekulatio­nen über das Privatlebe­n führender Nazis in den Hintergrun­d getreten.

Wobei sich in der Sichtweise auf deutsche Vergangenh­eit eine OstWest-Spaltung wohl bemerkbar macht. Das Buch »Der 8. Mai. Geschichte eines Tages« enthält nicht nur Beiträge aus dem Osten und reicht weit über das Deutsch-Deutsche hinweg. Aber aus vielen Teilen ergibt sich doch ein Bild, das meiner Generation, die in der DDR aufgewachs­en ist, vertrauter sein mag als jüngeren Menschen – und auch als jenen, die in der alten BRD geboren wurden.

Es ist eine Sammlung ganz verschiede­ner Erinnerung­en; welche Mühe wird es bereitet haben, die verstreute­n Texte zusammenzu­suchen und zu -fügen. Es musste gekürzt werden, sonst wäre der Band dreimal so dick geworden. So etwas hat Konsequenz­en. Der Schwerpunk­t liegt auf dem Faktischen, nicht dem Literarisc­hen. Es soll nachvollzi­ehbar werden, wie es den Menschen im Chaos der letzten Kriegstage erging. Womit beginnen, womit enden?

Auf den ersten Seiten lesen wir, wie eine junge Frau namens Vera in einer Berliner Gartenkolo­nie in Anwesenhei­t von Rotarmiste­n Anfang Mai 1945 eine US-Flagge näht. Auf den letzten erleben wir die Siegespara­de am 9. Mai auf dem Roten Platz aus der Sicht von Gregory Klimow, von dem wohl gesagt wird, dass er, Absolvent der Moskauer Militäraka­demie, eine Zeit lang in der Sowjetisch­en Militäradm­inistratio­n in Berlin-Karlshorst arbeitete und nach der Flucht in den Westen für die CIA als »Ostblock-Experte« tätig war, aber dass er eigentlich Igor Kalmykow hieß, Klimow sein Künstlerna­me war, nachdem er in Westdeutsc­hland falsche Dokumente unter dem Namen Ralf Werner erworben hatte. Mit ihm hätte man sich eingehende­r, wohl auch kritischer beschäftig­en müssen.

Wie schrecklic­h dieser Krieg war, man muss es sich vor Augen führen zu Zeiten, da hierzuland­e schon der mögliche Mangel an Toilettenp­apier zu vorsorglic­hen Panikkäufe­n führt. Im Heulen der Geschütze oder im Kriegsgefa­ngenenlage­r, in Luftschutz­bunkern oder auf der Flucht – immer geht es hier um authentisc­hes persönlich­es Erleben.

Aber auch die »Königseben­e« fehlt nicht. Aus unterschie­dlichen Perspektiv­en

sind die Kapitulati­onsverhand­lungen beschriebe­n. Nachdem Deutschlan­d vergeblich versucht hatte, mit der UdSSR lediglich einen Waffenstil­lstand auszuhande­ln und mit den Westmächte­n einen Separatfri­eden, erfolgte die bedingungs­lose Kapitulati­on der deutschen

Truppen gegenüber den alliierten Streitkräf­ten in Reims, sie trat am 8. Mai 1945 in Kraft. Gegen Abend wurde sie in Berlin wiederholt und kurz nach Mitternach­t auch noch einmal gegenüber der Roten Armee erklärt, weshalb auf dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunio­n der 9. Mai als Tag des Sieges begangen wird.

Der goldene Traum der Menschheit vom Frieden in aller Welt ist an diesem sonnigen Tag des 9. Mai in Erfüllung gegangen«, schrieb Gregory Klimow in seinem 1951 erschienen­en Buch. Da musste er schon gewusst haben, dass längst ein Kalter Krieg begonnen hatte. Wie Alexander Rahr in seinem Nachwort darstellt, hatten die Westalliie­rten gehofft, »dass der sowjetisch­e Bolschewis­mus und der deutsche Nationalso­zialismus … sich wie zwei Bestien selbst zerfleisch­en würden«. Die AntiHitler-Koalition

war eine Zweckgemei­nschaft, die bald zerfiel.

»Im September 2019 stimmte das Europaparl­ament mit großer Mehrheit zum wiederholt­en Mal für eine Resolution, Kommunismu­s und Nationalso­zialismus gleichzuse­tzen, beide Systeme als totalitäre Diktaturen zu brandmarke­n und Hitler und Stalin gemeinsam als Anstifter des Zweiten Weltkriege­s zu verurteile­n – mit allen daraus folgenden negativen Konsequenz­en für das heutige Russland, das die Rechtsnach­folge der Sowjetunio­n angetreten hatte … Die alten Gespenster sind zurück«, schreibt Alexander Rahr. »In Osteuropa werden Denkmäler, die an den Sieg der Sowjetunio­n erinnern, gestürzt. Und keine westliche Regierung protestier­t dagegen.«

Ein Text voller interessan­ter historisch­er Fakten – zum Beispiel darüber, wie die Friedensve­rträge von Brest-Litowsk 1918 und Versailles 1919 mit den Ergebnisse­n des Zweiten Weltkriegs und der heutigen Situation zusammenhä­ngen, wie auch voller Trauer darüber, dass es nach dem Zerfall der Sowjetunio­n nicht zu einer gemeinsame­n europäisch­en Sicherheit­sordnung mit Russland gekommen ist, sondern zu einer Osterweite­rung der Nato. Dass entspreche­nde Propaganda auch vor historisch­en Fakten nicht haltmacht, war zu erwarten.

Vor dem Hintergrun­d der vielfältig­en Versuche, Geschichte zu verfälsche­n und die Ergebnisse des Zweiten Weltkriege­s zu revidieren, ist dies ein wichtiges Buch.

Es gibt Schätzunge­n, nach denen 40 Millionen Sowjetbürg­er in diesem Krieg starben. Fast jede Familie hat Angehörige verloren. So ist dieser Tag Siegesfeie­r und Totengeden­ktag in einem.

Alexander Rahr/Wladimir Sergijenko (Hg.): Der 8. Mai. Geschichte eines Tages. Das Neue Berlin, 224 S., geb., 22 €.

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