Unbeirrt
Es ist eine schier unglaubliche, verstörende, wundersame und ermutigende Geschichte, die Edda Groth erzählt. Unglaublich und verstörend, was das konservative, autoritäre, repressive und unchristliche Verhalten der Kirche im Westdeutschland der ersten Nachkriegsjahrzehnte betrifft, wundersam und ermutigend, wie sich eine Christin allen Anfeindungen zum Trotz durchsetzte und gar zum Kommunismus fand. Im Mittelpunkt dieser fesselnden wie aufschlussreichen Lebensgeschichte stehen die Jahre der Revolte 1967 bis 1974, die offenbaren, wie die bürgerliche Gesellschaft der Bundesrepublik noch an alten Vorstellungen und überkommenen Normen krankte und wie sie mit jenen umging, die zu ihr in Widerspruch gerieten und Alternativen forderten.
Geboren in Dithmarschen in Schleswig-Holstein, wo sich über Jahrhunderte die Bauern der Unterwerfung durch die Obrigkeit mit Klugheit und List, mitunter auch Gewalt erwehrten, aufgewachsen in einer christlichen Familie, die sich in der NS-Zeit menschlich zu Fremd- und Zwangsarbeitern verhielt, wollte die junge Edda Missionsärztin werden wie ihr Vorbild Albert Schweitzer. Sie studierte Theologie an der AugustanaHochschule Neuendettelsau im fränkischen Bayern, hielt ihre erste Predigt 1962, woraus ihre Mutter stolz ein »Familienereignis« machte, setzte ihre Studien in Göttingen, Erlangen, Heidelberg fort und gehörte nach dem Examen in Kiel zu den ersten ordinierten Pastorinnen der BRD. Ihre erste Amtshandlung war zufällig die Tauung ihres Bruders Thies.
Erst 1965 hat die EvangelischLutherische Kirche von Schleswig-Holstein verfügt, dass Theologinnen ohne Unterschied zu ihren männlichen Kollegen einem Gemeindebezirk vorstehen dürften. Doch wie schon während des Studiums erfuhr Edda Groth auch als Pastorin an der Simeon-Kirche in Hamburg-Bramfeld Misstrauen und Ablehnung seitens der Kirchenleitung. Dies verstärkt sich, nachdem sie beim Deutschen Evangelischen Kirchentag 1969 in Stuttgart, der unter dem Motto steht »Hungern nach Gerechtigkeit«, sich – beeinflusst von den 68ern – dem Wahlspruch »Durst nach Revolution« anschließt, Marcuse, Adorno und Bloch (»Im Christentum steckt die Revolte«), Marx und Engels liest. Debatten um Mitbestimmung und Demokratie in der Gemeinde, ein neues Rollenverständnis der Geschlechter, innovative Kinder- und Jugendarbeit mit Spiel und Spaß, Musikbands und jungen Laienpredigern, die Infragestellung des muffigen Talars auch der Geistlichen, die Gründung einer »Kommune S« – das »S« stand für Simeon, sozial, Sozialismus »und vermutlich auch für Sex« –, ihr Engagement gegen Konsum und Krieg, für Frieden und Abrüstung, die Befreiung von Angela Davis und Nelson Mandela, kurzum: ihre politischen Gottesdienste lassen Edda Groth ihren Vorgesetzten immer suspekter erscheinen.
Der erste Versuch ihrer Suspendierung scheitert an Protesten der Gemeinde sowie einem großen Pressecho. Ihr »Offener Brief zur Frage der Zusammenarbeit mit Kommunisten in der Kirche«, ihr Protest gegen die Isolationshaft von RAF-Angehörigen sowie eine sogenannte Mao-Predigt bringen in den Augen der Kirchenleitung das Fass zum Überlaufen – Edda Groth gerät nun auch ins Visier des Verfassungsschutzes. Knapp einen Monat später ist sie entlassen, im Jahr darauf auch ihr Mann und Gesinnungsgefährte Helmut Lechner. Beide gehen ihren Weg unbeirrt weiter, engagieren sich gegen Rassismus, für soziale Gerechtigkeit und Frieden – heute innerhalb der Linkspartei.
Edda Groth-Lechner: Jesus, Marx und ich. Eine Achtundsechzigerin der Kirche. Lit, 420 S., br. 35,90 €.