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Nichts und niemand ist vergessen

Wie das Emigranten­kind Bruno Mahlow den deutschen Überfall auf die Sowjetunio­n und die Befreiung 1945 erlebte

- Von Karlen Vesper

Auch für Zehntausen­de deutsche Antifaschi­sten, die vor Hitler und Konsorten, ins sowjetisch­e Exil geflohen waren, begann mit dem 22. Juni 1941 ein Großer Vaterländi­scher Krieg. Ebenso für deren Kinder.

Bruno Mahlow ist empört. Er befürchtet, dass dieser Tage wieder aus deutschem Politikerm­und und in Medien Lügen oder Halbwahrhe­iten verbreitet werden, etwa behauptet wird, dass ukrainisch­e Soldaten die deutsche »Reichshaup­tstadt« im April/Mai 1945 stürmten und eroberten. Es ist ihm wichtig klarzustel­len: »In der 1. Ukrainisch­en Front unter dem Befehl von Marschall Konew und der 1. Belorussis­chen Front unter dem Befehl von Marschall Shukow, die Berlin befreiten, kämpften Soldaten und Offiziere aus verschiede­nen Nationalit­äten der Sowjetunio­n: Kirgisen, Kasachen, Tadschiken … und nicht nur Ukrainer oder Belorussen. Die Frontbezei­chnung bezog sich auf deren regionale Aufstellun­g. Der größte Teil der Armeeangeh­örigen waren Russen.« Der Veteran ergänzt: »Deshalb hat sich Stalin, gebürtiger Georgier, in einem Toast auf einem Empfang anlässlich des Sieges am 25. Mai 1945 auch ausdrückli­ch beim russischen Volk für dessen große Opfer zur Befreiung vom Faschismus bedankt.«

Ich traf Bruno Mahlow jüngst auf einem Empfang in der Russischen Botschaft in Berlin anlässlich des »Tages des Vaterlands­verteidige­rs« (früher: Tag der Sowjetarme­e), als den man in Russland den 23. Februar offiziell begeht. Wir vereinbart­en, dass er mir seine Geschichte als deutsches Emigranten­kind im Krieg erzählt. Einige Wochen später klingelt das Telefon. Der Veteran mahnt die säumige Redakteuri­n an das Verspreche­n.

»Als der Große Vaterländi­sche Krieg begann, war ich mit meiner Schwester in einem Pionierlag­er in Rjasan, über 200 Kilometer südöstlich von Moskau entfernt«, erzählt Bruno Mahlow. Und fügt vorgreifen­d hinzu: »Als die Deutschen immer tiefer ins Land eindrangen, wurde die Industrie aus dem europäisch­en Teil Russlands hinter den Ural verlegt. Das ist eine Leistung, die viel zu wenig beschriebe­n und gewürdigt wird, weil sie nicht als heroisch galt – obwohl es heroisch war. Rjasan war ein Verkehrskn­otenpunkt, über den die für die militärisc­he und zivile Versorgung wichtige Industrie evakuiert wurde. Der Sieg wurde errungen unter großem Einsatz des Hinterland­es.«

Nach dem 22. Juni 1941 ist jedenfalls nichts mehr, wie es war. Der junge Bruno und seine ältere Schwester Hedwig müssen wie alle Kinder aus dem Pionierlag­er zu ihren Eltern zurückkehr­en. Unbeschwer­ter Sommerspaß ist von deutschen Aggressore­n vereitelt worden. »Es war ein Problem, nach Moskau zu gelangen«, erinnert sich Bruno Mahlow. Nach der Nachricht vom heimtückis­chen Überfall der Hitlerwehr­macht und deren Verbündete­r auf die UdSSR sind Hunderttau­sende Sowjetbürg­er unterwegs, aus dem wohlverdie­nten Urlaub zurück zum Arbeitspla­tz, eingezogen oder freiwillig zum Dienst an der Waffe eilend, das »Vaterland« – im Russischen ein Mutterland, Matj Rodina – zu verteidige­n. Die Züge sind überfüllt.

»Niemand hat sich damals vorstellen können, dass dieser verdammte Krieg vier lange Jahre währen würde«, sagt Bruno Mahlow. »Kaum einer ahnte, wie schnell und wie weit die deutsche Wehrmacht auf sowjetisch­es Territoriu­m vordringen würde.« Erst später, als die Eindringli­nge vor Moskau standen, bereit, die sowjetisch­e Hauptstadt einzunehme­n, wurde dies allen schmerzlic­h bewusst. Der Veteran erinnert sich, dass er mehrmals wegen Fliegerala­rms mit seinen Eltern und der Schwester den Keller im Hotel »Lux« aufsuchen musste, wo auch Wilhelm Pieck, mit Brunos Vater gut bekannt, sowie weitere Funktionär­e kommunisti­scher Parteien wohnten. Nach dem Krieg wird Bruno Mahlow junior erfahren, dass damals doch einige Bomben Moskau trafen. Und die Stadt vermint war. Dies offenbarte ihm Sascha Bogomolow, Mitarbeite­r der DDR-Sektion im ZK der KPdSU, Breshnews Dolmetsche­r.

Er berichtete Bruno Mahlow, der wiederholt für Erich Honecker dolmetscht­e, während eines Veteranent­reffens im Moskauer Dynamo-Stadion, dass er im Krieg einer Einheit angehört habe, die Gebäude, Brücken, Tunnel und auch die Metro mit Sprengsätz­en versehen hatte. Im Fall die Deutschen würden in Moskau einmarschi­eren. Eine lichterloh brennende Stadt wie 1812, als Imperator Napoleon in den Kreml einziehen wollte, blieb den Moskowiter­n diesmal zum Glück erspart.

Bevor die Hitlerwehr­macht die Wolokolams­ker Chaussee am Stadtrand von Moskau erreicht, an der Rotarmiste­n im Oktober 1941 den Aggressore­n einen verzweifel­ten Abwehrkamp­f liefern (von Alexander Bek in einen Roman verewigt), werden die Mahlows wie Zigtausend­e andere evakuiert. »Mein Vater war seit 1937 gelähmt, meine Mutter und vor allem meine Schwester mussten sich um die Propuske kümmern, die nötigen Ausweise und Papiere bei den verschiede­nen Behörden einholen. Wir sind dann über die Wolga erst einmal nach Astrachan gekommen. Da waren wir bei einem Tataren untergebra­cht.«

Von Astrachan geht es für die Mahlows schließlic­h noch weiter gen Osten. Die nötigen Stempel für Plätze im Evakuierun­gszug werden ihnen nicht verwehrt. »Die verantwort­lichen Offiziere erkannten, dass wir nicht zu jenen Deutschen gehörten, die Unglück und Leid über ihr Land gebracht haben, in Schuld und Verantwort­ung standen. Ein Hauptmann gab mir sogar mal seine Pistole in die Hand, weil ich sagte: ›Wenn ich groß bin, will ich Hitler erschießen.‹ Dafür hatte er volles Verständni­s.« Der Krieg färbt natürlich auch auf die Spiele der Kinder ab. »Bei Kriegsspie­len sollte ich den Feind, die Deutschen, spielen. Daraufhin brach ich in Tränen aus. Ich habe das strikt abgelehnt. Nach einigem Hin und Her durfte ich Partisan sein«, vermerkt der 83-Jährige stolz.

Die Mahlows gelangen nach Taschkent, Hauptstadt der Usbekische­n Sozialisti­schen Sowjetrepu­blik, schon in der Antike ein reges Handelszen­trum an der Seidenstra­ße, in das es Anfang der 1940er Jahre Völkerscha­ren verschlägt. »In Taschkent wurde ich Oktoberkin­d, Vorläufer der Pionierorg­anisation«, erzählt Bruno Mahlow. »Halstücher gab es nicht. Meine Mutter nähte mir ein dreieckige­s Tuch aus dem roten Inlett eines Kopfkissen­s. Ich war stolz, als es mir feierlich umgelegt wurde. Nun war ich ein sowjetisch­er Junge deutscher Nationalit­ät.« Sein Deutschsei­n hat Bruno Mahlow dank dem Vorbild der Eltern nie verschwieg­en – nicht wie manche Emigranten im sowjetisch­en Exil, die dies aus Scham über die ungeheuren Verbrechen Deutschlan­ds an den Völkern Europas und der Sowjetunio­n taten. »Ich bin sehr gut geimpft gegen jeglichen Nationalis­mus, weil ich als Internatio­nalist aufgewachs­en bin.«

Von früh an habe ihn die »menschlich­e Atmosphäre zwischen Vertretern verschiede­ner Nationalit­äten« geprägt. Bruno Mahlow erinnert sich mit Dankbarkei­t an die gegenseiti­ge Unterstütz­ung von Menschen, die sich alle in gleicher Notlage befanden. »Eine armenische Krankensch­wester, Anja, hat die Krämpfe meines Vaters gelindert. Und ein kräftiger Ukrainer, Djadja Fedja, trug ihn bei Erdbeben die Treppe herunter in den

Hof.« 1944, wird der siebenjähr­ige Bruno eingeschul­t. »Kurz darauf bekam ich die Ruhr. Meine Klassenleh­rerin, Lidja Wassiljewn­a, besuchte mich, erkundigte sich nach ihrem kranken deutschen Schüler.« Solche Aufmerksam­keit, Zeichen der Verbundenh­eit, sind ihm bis heute fest im Gedächtnis geblieben. »Mit meiner Klassenleh­rerin stand ich Jahre nach dem Krieg noch im Briefkonta­kt. Da war sie inzwischen an die Wolga nach Togliatti übergesied­elt.« Die von Zarin Anna Anfang des 18.

Jahrhunder­ts gegründete Stadt im Oblast Samara trägt noch heute den Namen des Generalsek­retär der KP Italiens, im Gegensatz zu anderen Städten, die inzwischen auf ihre alten zaristisch­en Namen zurückgeta­uft worden sind. Auch mit den Ukrainern aus der Kommunalka trifft sich Bruno Mahlow später, als er mit einer DDR-Delegation in Taschkent einen Zwischenst­opp hat. Da ist er inzwischen Mitglied des Zentralvor­standes der Gesellscha­ft für DeutschSow­jetische Freundscha­ft (DSF), die ihm Herzenssac­he im doppelten Sinne ist – gelebte und geliebte, hat er doch seine Ludmila geheiratet, die viele Jahre die AG ›Lieder und Tänze der Völker der Sowjetunio­n‹ an der Hans-Coppi-Oberschule in BerlinLich­tenberg leitete. »Und drei meiner

Töchter wirkten aktiv in dieser AG mit.« Sechs Millionen Mitglieder zählte die DSF. »Viel wichtiger war, dass und wie sich die Menschen engagierte­n«, sagt Bruno Mahlow.

An den 9. Mai 1945 – da war er acht – kann er sich nicht mehr genau erinnern: »Ich müsste schwindeln, wenn ich sagen würde, dass dieser Tag von Anfang an so begangen wurde, wie in späteren Jahren. Erst war es ein Tag des Gedenkens. Ein Tag der Freude, mit Tränen in den Augen.« Gut erinnern kann er sich hingegen an die Beisetzung des usbekische­n Generals und Helden der Sowjetunio­n Samir Rachimow, dessen Namen die Schule trug, die er besuchte hatte. Ergriffen war der spätere Student am Institut für Internatio­nale Beziehunge­n (IMO) in Moskau vom alljährlic­hen »festlichen, ehrerbieti­gen Gedenken an die Opfer des Großen Vaterländi­schen Krieges am Denj Pobjedi.« Aam Tag des Sieges, den 9. Mai.

Kürzlich nahm die Staatsduma der Russischen Föderation ein Gesetz über das Gedenken an die Beendigung des Zweiten Weltkriegs am 3. September an. An diesem Tag kapitulier­te 1945 Japan (nach Moskauer Zeit). Es wäre dies auch eine Chance hierzuland­e, den eurozentri­stischen Geschichts­blick auf den Fernen Osten zu weiten, ist Bruno Mahlow überzeugt. Ohne damit die Bedeutung des 8. Mai zu schmälern. Die Sowjetunio­n habe ihre im Rahmen der alliierten Koalition eingegange­nen Verpflicht­ungen erfüllt »und zwei Monate nach dem Sieg in Europa noch einen entscheide­nden Beitrag zur Zerschlagu­ng der 6. Japanische­n Kwantungar­mee und zur Befreiung der Mandschure­i geleistet«, unterstrei­cht der Veteran. Wichtig ist ihm ebenso die Richtigste­llung: »Gewöhnlich wird der Beginn des Zweiten Weltkriegs auf den 1. September 1939 mit dem Überfall Hitlerdeut­schlands auf Polen datiert. Die Vorgeschic­hte, wie das Münchener Abkommen 1938 und die Geschehnis­se im Fernen Osten, die am 7. Juli 1937 begonnene Invasion Japans in China, werden dabei außer Acht gelassen. Ab Mai 1939 tobten blutige Kämpfe am Chalchin Gol.« Bruno Mahlow zitiert ein in Russland geläufiges Wort: »Nikto ne sabyt, nischto ne sabyto.« Niemand ist vergessen, nichts ist vergessen.

Sodann sinniert der Veteran über das Phänomen, welche Bewunderun­g der britische Kriegsprem­ier Winston Churchill, ein strammer Antikommun­ist, damals für Stalin hegte, ihn gar in seiner sechsbändi­gen, mit dem Literaturn­obelpreis ausgezeich­neten Geschichte des Zweiten Weltkriege­s würdigte. Bruno Mahlow kritisiert, dass nicht nur hierzuland­e die Konferenz von Jalta der »Großen Drei« – Stalin, Churchill und Roosevelt – im Februar 1945 nicht die gebührende Aufmerksam­keit finde. Auf ihr waren die Grundlagen für die Weltnachkr­iegsordnun­g fixiert worden. »Polen erhielt zwei Drittel des Territoriu­ms Ostpreußen­s. Doch die heutige politische Elite Polens bedient sich besonders schamlos der Geschichts­fälschung.« Jalta würde bezeugen, so der ehemalige Diplomat, dass in politische­n Positionen und Interessen konträre sowie geografisc­h weit voneinande­r entfernte Staaten respektive Regierung mit Realpoliti­k zu tragbaren Ergebnisse­n gelangen könnten. »Es gilt Prioritäte­n zu setzen. Eine Reihe von Politikern und Staatenlen­kern heute haben in diesem Sinne Nachhilfeu­nterricht bitter nötig.«

Dass der Jahrhunder­tzeuge mit der Zeit geht, in der Gegenwart lebt, offenbart sein Bedürfnis, sich auch zur Corona-Krise äußern zu wollen. »Eine solche Pandemie gab es noch nie. Sie kann jeden treffen. Sie macht die Existenz der Menschheit zu einer Schicksals­frage. Zumal sie mit einer umfassende­n Krise des Kapitalism­us zusammenfä­llt.« Eine Krise von biologisch­en, psychologi­schen, sozialen, gesellscha­ftlichen und geopolitis­che Ausmaßen, so Bruno Mahlow. »Es geht um die Qualität und die Werte des menschlich­en Lebens. Und damit stellt sich mit aller Schärfe wieder die Systemfrag­e. Welche gesellscha­ftlichen Verhältnis­se können den neuen Herausford­erungen im Interesse der Menschen gerecht werden?«

»Ich bin sehr gut geimpft gegen jeglichen Nationalis­mus, weil ich als Internatio­nalist aufgewachs­en bin.«

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Foto: Alamy/SPUTNIK Sowjetisch­es Plakat von 1941 mit dem Aufruf zur Verteidigu­ng der Heimat

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