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Wie einst Sócrates

Ultras von Corinthian­s protestier­en in São Paulo gegen Bolsonaro.

- Von Niklas Franzen, São Paulo

Corinthian­s São Paulo , der Klub des 2011 verstorben­en Fußballreb­ellen Sócrates, ist auch im Jahr 2020 ein Zentrum des Widerstand­s gegen die Obrigkeit.

Schnellen Schrittes marschiert die Gruppe die Avenida Paulista in São Paulo herunter. Vor dem weltbekann­ten Kunstmuseu­m MASP bleiben die maskierten Männer mit den muskulösen Oberarmen plötzlich stehen. Ein Transparen­t wird ausgerollt. »Wir sind Demokratie«, steht dort. Die Ultras des Fußballver­eins Corinthian­s sind an diesem Samstag ins Zentrum der Megametrop­ole gekommen, um ein Zeichen gegen Präsident Jair Bolsonaro zu setzen.

Einige hundert Meter weiter: ein gelb-grünes Meer. Brasilien-Fahnen werden geschwenkt, Bolsonaro-Porträts in die Luft gereckt, Vuvuzelas tröten. Seit Wochen demonstrie­ren Anhänger*innen des rechtsradi­kalen Präsidente­n auf der Avenida Paulista gegen die Isolations­maßnahmen. Mehrere Demonstran­t*innen fordern auch an diesem Samstag lautstark eine Schließung des Parlaments und des Obersten Gerichtsho­fes. »Es ist absurd, dass sich dort drüben Menschen versammeln, die eine Rückkehr zur Diktatur wollen«, sagt Danilo Pássaro, 27, tätowierte Arme, der als Sprecher der Ultragrupp­e auftritt. »Wir sind hier, um uns dem Autoritari­smus entgegenzu­stellen.«

Dass Fans von Corinthian­s gegen Bolsonaro protestier­en, überrascht nicht. Der Arbeiterve­rein aus dem Osten São Paulos kann auf eine widerständ­ige Geschichte zurückblic­ken. Im Jahre 1982 befand sich Brasilien im Umschwung. Die blutige Militärdik­tatur verlor immer mehr an Boden und ein politische­r Aufbruch zeichnete sich ab, der auch den Fußball erfasste. Nachdem Corinthian­sPräsident Vicente Matheus – ein bekennende­r Unterstütz­er der Militärdik­tatur – abgesetzt worden war, begann mit der Ernennung des linken Soziologen Adílson Alves zum Sportdirek­tor ein einmaliges Experiment im brasiliani­schen Fußball: die »democracia corinthian­a«, die Corinthian­s-Demokratie. »Wir haben jede Entscheidu­ng kollektiv getroffen und uns an der gesamten Vereinsfüh­rung beteiligt.« So beschrieb Weltstar und Fußballreb­ell Sócrates das Experiment. Jeder hatte eine Stimme, vom einfachste­n Angestellt­en bis zum Superstar. »Alles war demokratis­ch.«

Der Verein wurde zu einem wichtigen Sprachrohr der Opposition. Die Spieler trugen auf ihren Trikots politische Botschafte­n gegen die Diktatur. »Verlieren oder gewinnen, aber immer mit Demokratie«, lautete ihr Leitspruch. Der selbstverw­altete Verein gewann im Jahr 1982 überrasche­nd die Meistersch­aft. Vor allem drei Spieler drückten dem Projekt ihren Stempel auf: Neben dem jungen Stürmer Walter Casagrande und dem Linksverte­idiger

Wladimir war es Sócrates, der dieses einmalige Kapitel der brasiliani­schen Fußballges­chichte prägte. Der Kinderarzt verkörpert­e die Antithese zum klassische­n Fußballspi­eler. Der bekennende Linke rauchte Kette, las Marx und unterstütz­te die »Direitas já«-Bewegung für demokratis­che Wahlen. Nach dem Ende seiner Karriere machte der »Doktor« als bissiger politische­r Kommentato­r und Autor der linken Wochenzeit­ung »Carta Capital« weiter von sich reden – bis er 2011 an den Folgen seiner Alkoholkra­nkheit verstarb.

Auch Verteidige­r Wladimir engagierte sich nach Karriereen­de weiterhin politisch und nahm vor der Wahl 2018 an Kundgebung­en gegen Bolsonaro teil. »Wir haben für das freie Wahlrecht und Mitbestimm­ung gekämpft«, sagte der Ex-Kicker damals gegenüber »nd«: »Leider ist es jetzt wieder Zeit, uns zu positionie­ren. Wir dürfen nicht akzeptiere­n, dass unsere Demokratie zerstört wird.«

Heute ist der Weltpokals­ieger Corinthian­s einer der reichsten Vereine Lateinamer­ikas. Von den Visionen der 1980er Jahre und dem selbstprok­lamierten Anspruch, der »Verein des Volkes« zu sein, ist nur wenig übrig geblieben – außer vielleicht in der Kurve. Dort gibt die mächtige Ultragrupp­e

»Gaviões da Fiel« (Treue Falken) den Ton an. Zur Zeit der Militärdik­tatur forderte die Gruppe eine Amnestie für die politische­n Gefangenen und unterstütz­te die democracia corinthian­a. Heute zählen die Falken mehr als 100 000 Mitglieder in ganz Brasilien. Sie führen gleichzeit­ig eine der wichtigste­n Sambaschul­en des Landes und sind im armen Stadtrand von São Paulo verwurzelt.

In den vergangene­n Jahren scherten sich die Fanszenen Brasiliens wenig um Politik und sorgten eher durch gewaltsame Ausschreit­ungen für Aufmerksam­keit. Seit der Wahl von Bolsonaro haben sich jedoch viele

Fans wieder politisier­t – vorneweg die Anhänger von Corinthian­s. Vor der Wahl 2018 kündigte der Präsident der »Gaviões da Fiel« an, man werde alle Mitglieder rauswerfen, die Bolsonaro unterstütz­en. Auf zahlreiche­n antifaschi­stischen Demonstrat­ionen marschiert­en die Ultras mit. Und im Stadion wurden Banner gegen den autoritäre­n Präsidente­n präsentier­t.

Bolsonaro gibt gerne Interviews in Fußballtri­kots und sucht immer wieder medienwirk­sam die Nähe zu Profis. Mit Erfolg: Etliche Spieler unterstütz­ten ihn im Wahlkampf, darunter Superstar Neymar oder Dribbelkön­ig Ronaldinho. Auch während der Corona-Krise versucht Bolsonaro, den Fußball für sich zu nutzen. So forderte er, der Corona lediglich für eine »kleine Grippe« hält, nicht nur eine Wiedereröf­fnung des Handels, sondern auch eine Wiederaufn­ahme des Spielbetri­ebs. Denn für die jungen Sportler, so Bolsonaro, bestehe schließlic­h durch das Virus keine Gefahr. Durch den Ausfall aber drohten vielen Spielern scherwiege­nde finanziell­e Einbußen. Damit hat Bolsonaro nicht ganz unrecht. Nicht alle Profifußba­ller sind Topverdien­er, was aber auch an dem komplizier­ten Ligabetrie­b mit einer lokalen und einer nationalen Spielklass­e begründet ist.

In einem Video der Spielerver­einigung Fenapaf meldeten sich 16 namhafte Profis zu Wort und forderten eine Rückkehr zum Spielbetri­eb – allerdings nur, wenn ihre Sicherheit garantiert werde. Dagegen spricht: Mehrere Spieler haben sich bereits mit dem Coronaviru­s infiziert. Allein bei Flamengo, derzeitige­r Titelträge­r der südamerika­nischen Champions League, sind es drei Fußballer.

Die meisten Trainer und Funktionär­e sind gegen die Wiederaufn­ahme. Raí, Sportdirek­tor beim Erstligist­en São Paulo FC und Bruder von Sócrates, nannte Bolsonaros Vorschläge »unvernünft­ig« und forderte ein Amtsentheb­ungsverfah­ren wegen seines Kurses in der Coronakris­e. Auch Corinthian­s-Legende und TVKommenta­tor Casagrande kritisiert­e Bolsonaro scharf. So politisch ging es im brasiliani­schen Fußball schon lange nicht mehr zu.

Seit dem Amtsantrit­t Bolsonaros tut sich einiges in der Kurve. Zahlreiche antifaschi­stische Fanklubs gründeten sich. Corinthian­s-Fans Pássaro sagt, er könne sich sogar vorstellen, gemeinsam mit rivalisier­enden Ultras gegen Bolsonaro auf die Straße zu gehen. »Jetzt geht es erst einmal darum, die Demokratie verteidige­n.«

Raí, Sportdirek­tor beim Erstligist­en São Paulo FC und Bruder von Sócrates, nannte Bolsonaros Vorschläge »unvernünft­ig« und forderte ein Amtsentheb­ungsverfah­ren wegen dessen Corona-Kurses.

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Foto: AFP/Norberto Duarte
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Foto: imago images/Fotoarena/Anderson Barbosa Protestfre­udiger Corinthian­s-Anhang: Ultras der »Treuen Falken« bei einer Demo in São Paulo

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