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Das Klatschen für Pflegende wird bald wieder aufhören

Die Wertschätz­ung der Arbeit hängt mit davon ab, wer die Arbeit leistet, meint Sibel Schick

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Ich war vielleicht neun, als ich meiner Mutter eine Tafel Schokolade zum Muttertag schenkte, um die am nächsten Tag selber aufzuessen. Ich dachte, einen Anspruch auf diese Schokolade zu haben, weil sie für meine Mutter war und ich als Kind wichtiger sei als sie. Das fasst die Situation gut zusammen.

Wie jede Krise macht auch Corona die Probleme in der Gesellscha­ft sichtbarer und gravierend­er. 2020 gab es als Dank zum Muttertag wieder nur Lippenbeke­nntnisse. So gratuliert­e das Familien-, Senioren-, Frauen- & Jugendmini­sterium Müttern lediglich mit einem Bild auf Social Media, auf dem eine glückliche Mutter mit Kind in einer lichtdurch­fluteten, großen Wohnung zu sehen war. Mit »Danke« und »alles Gute« statt konkreten Hilfsmaßna­hmen.

Über vier Millionen Familien sind von Kita- und Schulschli­eßungen betroffen, die Wiederöffn­ungen erfordern intensive Planung. Vor allem für Mütter ist das eine Herausford­erung, denn sie verbringen in allen denkbaren heterosexu­ellen Beziehungs­konstellat­ionen viel mehr Zeit mit Kindern als ihre Partner. Das macht eine Vereinbark­eit mit dem Beruf fast unmöglich. Alleinerzi­ehende haben es meist noch schwerer. Als Lösung schlägt das Deutsche Institut für Wirtschaft­sforschung das Corona-Elterngeld, für das auch eine Kampagne läuft, vor.

Das Corona-Elterngeld soll sich am Gehalt der Eltern orientiere­n. Das findet die Aktivistin Anne Isakowitsc­h nicht inklusiv: »Wir sehen es nicht ein, dass wohlhabend­e Familien mehr Geld bekommen als Familien mit geringerem Gehalt,« sagt sie im Gespräch. Mit der Initiative »Kitakrise Berlin« fordert Isakowitsc­h ein Corona-Kindergeld, bei dem alle Familien die gleiche Summe erhalten sollen.

Forderunge­n für Lösungen werden also lauter, diesen folgen aber keine politische­n Maßnahmen. Woran liegt das?

Wie viel unbezahlte Fürsorge-, Pflege- und Betreuungs­arbeit in eigenen vier Wänden geleistet wird, bleibt unsichtbar. Das liegt unter anderem daran, dass jene, die diese Arbeit leisten, nicht denselben gesellscha­ftlichen Stellenwer­t genießen wie cis-Männer. Cis-Männer sind jene Männer, die bereits bei der Geburt als männlich eingeordne­t wurden. Sollten mehr cis-Männer Fürsorgear­beit leisten, würde sich die Wertschätz­ung anpassen. Die Reprodukti­onsund Fürsorgear­beit wird nicht per se abgewertet, sondern, weil es »Frauenarbe­it« ist. Wenn cis-Männer Applaus für ihre Leistungen daheim bekommen, liegt das an dieser Beziehung. Ein Mann, der staubsauge­n kann: Bravo, 100.000 Retweets. Ein Papa in Elternzeit: Hier, ein Kolumnenpl­atz!

Das Problem der geringen Wertschätz­ung für die Fürsorgear­beit ist Ursprung der Pflegekris­e. Pflegeverb­ände

können ihre Interessen nicht durchsetze­n, weil ihre Arbeit feminin kodiert ist, das heißt als »Frauenarbe­it« angesehen und abgewertet wird. Nur in einer Pandemie fürs Medizinper­sonal zu klatschen, ist genauso wie Müttern am Muttertag zu danken und an 364 Tagen nichts für ihr Wohlbefind­en zu machen.

Sobald die Krise vorbei ist, wird das Klatschen aufhören. Pflegekräf­te werden weiter unterbeset­zt am Limit arbeiten. Denn in einer Leistungsg­esellschaf­t zählt, welches Auto du fährst, aber nicht, wie viele Menschen du pflegst und rettest. Deshalb wird gerade mehr über die Autoindust­rie diskutiert als über die Krise daheim oder in der Pflege. Menschen sind sich zu schade, in die Pflege zu gehen und dort »Frauenarbe­it« zu machen. Diese Verachtung geht so weit, dass sie lieber andere ausbeuten – zum Beispiel 24-Stunden-Kräfte aus Polen, die als Haushaltsh­ilfe eingestell­t und als Pflegerin missbrauch­t werden.

Die Wertschätz­ung der Arbeit hängt mit davon ab, wer die Arbeit leistet. Studien belegen, dass Löhne sinken, sobald der Frauenante­il über 60 Prozent steigt. Mehr Frauen bedeutet weniger Gehalt – egal, um welche Arbeit es geht. Umgekehrt steigen die Löhne, wenn eine sogenannte Frauenbran­che von Männern übernommen wird (zum Beispiel Informatik).

Es dauert, eine Gesellscha­ft nachhaltig zu verändern. Aber wir brauchen schnelle Lösungen: Geld für die Eltern für ihre Fürsorge und Betreuung und gerechte Bezahlung für Erziehung und Pflege, die an Verantwort­ung und Belastung angepasst ist. Bis aus Lippenbeke­nntnissen politische Maßnahmen werden, spart euch lieber den Applaus und das Dankeschön.

 ?? Foto: Valerie-Siba Rousparast ?? Die Journalist­in Sibel Schick ist 1985 in der Türkei geboren und zog 2009 nach Deutschlan­d. Für »neues deutschlan­d« schreibt sie die monatliche Kolumne »In schlechter Gesellscha­ft«.
Foto: Valerie-Siba Rousparast Die Journalist­in Sibel Schick ist 1985 in der Türkei geboren und zog 2009 nach Deutschlan­d. Für »neues deutschlan­d« schreibt sie die monatliche Kolumne »In schlechter Gesellscha­ft«.

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