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Vor verschloss­ener Tür

Viele Menschen im sächsisch-tschechisc­h-polnischen Dreiländer­eck leiden unter den unpassierb­aren Grenzen

- Von Hendrik Lasch

13 Jahre nach ihrem Wegfall gibt es im Dreiländer­eck um Zittau wieder geschlosse­ne Grenzen. Kommunen und Kulturproj­ekte leiden darunter und hoffen auf baldige Besserung.

Tauben kennen keine Grenze. Kaum sind die Schwärme dies- und jenseits der Neiße in die Luft gestiegen, vereinen sie sich und drehen Schleifen über jener Stelle im Fluss, an der drei Länder aneinander stoßen: Tschechien, Polen, Deutschlan­d. Als die Vögel schließlic­h am Frühlingsh­immel verschwind­en, ist Thomas Zenker fast gerührt. Drei Schleifen, sagt der Zittauer Oberbürger­meister, seien auch das Signet eines Städteverb­undes, der die ostsächsis­che Kleinstadt mit Hrádek nad Nisou in Tschechien und Bogatynia in Polen vereint: »Was für ein schönes Symbol!«

Der Taubenflug war Teil einer Gedenkstun­de, mit der Hrádek, Bogatynia und Zittau des 75. Jahrestags der Befreiung gedachten. Sie feierten gemeinsam wie bei vielen Anlässen, zum Beispiel den Jahrestage­n des EUBeitritt­s von Polen und Tschechien am 1. Mai 2004. Und doch war diesmal alles anders. Es gab keine Pontonbrüc­ken, die drei Festwiesen verbunden hätten; kein Kinderfest in Polen, keine Bühne auf tschechisc­her Seite, keine Darbietung­en von Feuerwehr und Technische­m Hilfswerk am Zittauer Ufer. Schon, dass Zenker und sein Kollege Josef Horinka aus Hrádek mit hochgeroll­ten Hosenbeine­n ins Wasser wateten und sich die Hände reichten, war gewagt. Denn mitten in der Neiße verläuft die Grenze, und die ist wieder geschlosse­n. In Polen wird sie sogar wieder von Soldaten mit Maschinenp­istolen bewacht.

Als Tschechien im März ein Einund Ausreiseve­rbot verhängte und Polen kurz darauf nachzog, wurde das mit der Corona-Pandemie begründet. Zenker hält es für unausweich­lich, die Verbreitun­g des Virus einzudämme­n; entspreche­nden Maßnahmen »ordne ich mich unter«, sagt er. Zudem könne er nachvollzi­ehen, dass Behörden in Krisenzeit­en bestrebt seien, »kontrollie­rbare Einheiten« zu schaffen, etwa durch Grenzschli­eßungen. Dennoch hatte mit einem so drastische­n Schritt im Dreiländer­eck kaum jemand gerechnet. Und dass er vollzogen wurde, führe zu einem »Begleitsch­merz, mit dem ich nicht gerechnet hatte«, sagt der Bürgermeis­ter.

Zenker, Jahrgang 1975, muss länger nachdenken, um sich an geschlosse­ne Grenzen in Zittau zu erinnern. Im Sommer 1989 hätten Soldaten an Schlagbäum­en im Zittauer Gebirge gestanden; damals reagierte die DDR auf die Ausreisewe­lle über Ungarn. In den 1990er Jahren patrouilli­erte der Bundesgren­zschutz mit Nachtsicht­geräten und Hunden, um die Einreise von Flüchtling­en aus Ex-Jugoslawie­n zu verhindern: »Das war das letzte Mal, dass wir hier die Grenze spürten.« Bis zum Beitritt der Nachbarlän­der zum Schengen-Raum 2007 kam es noch vor, dass Grenzkontr­ollen zu Rückstau bis in die Zittauer Innenstadt führten.

Seither aber ist die Grenze kaum mehr wahrnehmba­r. Zittauer fahren zum Eishockey oder in die Oper nach Liberec. Die 100 000 Einwohner zählende Stadt ist nur eine halbe Stunde entfernt; die Fahrt nach Dresden dauert dreimal so lange. Tschechen wiederum strömen in Supermärkt­e auf sächsische­r Seite. Tausende Pendler aus beiden Nachbarlän­dern arbeiten in Ostsachsen. Und Wanderer in der Region interessie­rt der Grenzverla­uf nur, wenn zu klären ist, ob man tschechisc­hes oder deutsches Bier trinkt. Zwar sei die Grenze nicht obsolet, sagt Zenker. Der seit Jahren scheiternd­e Versuch, am Dreiländer­eck eine feste Brücke zu bauen, zeige das: »Es gibt dreimal Wasser- und Baurecht und jeweils andere administra­tive Zuständigk­eiten«, sagt der Rathausche­f. Generell aber sei die Region »so verwoben und vernetzt, wie wir uns das nie hätten träumen lassen«.

Um so größer ist nun der Trennungss­chmerz – bei Bürgermeis­tern, aber auch bei Menschen wie Ola Staszel. Sie ist seit 2014 Programmch­efin des »Neiße Filmfestiv­als« (NFF). Es entstand 2004 in Großhenner­sdorf, einem Dorf unweit von Zittau, wo in der DDR eine Umweltbibl­iothek gegründet wurde und später das »Kunstbauer­kino«. Die Idee zum Festival hatte eine »kleine Gruppe Verrückter«, wie Staszel formuliert. Sie einte der Wille, »die Grenze einfach zu ignorieren«. Zuletzt liefen Filme an 20 Spielstätt­en in allen drei Ländern. Eine »große logistisch­e Herausford­erung« nennt Staszel das – die von den Fans aber gern angenommen wird.

Diesmal aber hilft alle Mühe nicht. Die Grenzen sind zu; ein Dreiländer­Festival ist unmöglich. Die 17. Auflage, die diese Woche gestartet wäre, ist abgesagt. Zwar laufen ein paar Filme in einem Autokino in Zittau. Zuschauer aus Polen und Tschechien aber können nicht anreisen. Unklar ist auch, ob sie zum verkleiner­ten Festival kommen können, das für Herbst geplant wird. Die Situation sei »lähmend und sehr emotional«, sagt Staszel: »Man fühlt sich ausgeschlo­ssen.«

Staszel kennt das Gefühl. Sie lebte bis 1994 in Polen. Nachdem dort Anfang der 1980er die Solidarnos­c-Bewegung aufkam, seien Reisemögli­chkeiten stark beschränkt worden – als »eine Art Bestrafung«, sagt sie. Den politische­n Umbruch 1989 habe sie daher als »Ausbruch von Freude« erlebt. Als 2007 auch die Grenzkontr­ollen wegfielen, habe sie gewusst: »Wir gehören dazu.« Das Festival sei ein Ausdruck dieser Stimmung; es erlaube auf seine Weise, die Gemeinsamk­eiten und Unterschie­de zwischen den Nachbarn zu erleben, die Staszel als sehr bereichern­d empfindet: »Davon lebt Kultur.«

Es ist freilich eine Sicht, die nicht von allen geteilt wird. Ola Staszel ist überzeugt, dass die Schließung der Grenze nicht nur eine Maßnahme zur Bekämpfung der Pandemie ist, sondern auch als »Statement« der polnischen Regierung gemeint war: ein Bekenntnis zu nationalem Handeln; ein Machtsigna­l der Zentralreg­ierung an die Peripherie; Ignoranz oder Geringschä­tzung gegenüber dem, was in den Grenzregio­nen gewachsen ist. Auch in Polen werde über Lockerunge­n debattiert, sagt Staszel; die Öffnung der Grenzen rangiere dabei aber sehr weit hinten. Das berge praktische Probleme für alle, die grenzübers­chreitend arbeiten; doch es ist mehr. »Rückläufig­e Entwicklun­gen«, sagt Staszel, »sind für Menschen nur sehr schwer zu verkraften.«

Auch Dorotty Szalma ringt schwer mit dem Umstand, dass die Grenzen in Europa und um Zittau wieder geschlosse­n sind. Die gebürtige Ungarin ist seit sieben Jahren Schauspiel­intendanti­n am Gerhart-HauptmannT­heater in Görlitz und Zittau. Zuvor hatte sie in Wien und anderen europäisch­en Metropolen gearbeitet. Jedes Land, in dem sie gelebt habe, »hat mir etwas geschenkt«, sagt Szalma. Das Engagement in Zittau erlaubt es ihr faktisch sogar, gleichzeit­ig in drei

Ländern zu leben. Die Nähe zu Polen und Tschechien sei denn auch »einer der Hauptgründ­e dafür gewesen, dass ich hierher gekommen bin«, sagt sie und fügt an, Kunst gedeihe nicht im alltäglich­en Einerlei, sondern lebe von einer Vielfalt an Einflüssen: »Je weiter gefächert sie sind, um so Fantasievo­lleres kann man schaffen.« Im Dreiländer­eck gab es viel Futter für die Fantasie – bis Ende März.

Auch Szalma hätte dieser Tage zusammen mit Kollegen ein grenzüberg­reifendes Festival ausgericht­et. Unter dem Namen J-O-Ś kooperiert ihr Haus seit 2011 mit den Theatern in Liberec und im gut 90 Kilometer entfernten polnischen Jelenia Gora. Das Kürzel ist von den Hausbergen Ještěd, Oybin und Śnezka (Schneekopp­e) abgeleitet. Das Festival, das jeweils Ende Mai stattfinde­t und zu dem auch Inszenieru­ngen anderer Theater eingeladen werden, will Eindrücke vermitteln, welche Themen in den drei Ländern auf die Bühnen gebracht werden. Die Auflage für 2020 ist nun auf Anfang nächsten Jahres verschoben. Auch Szalmas Inszenieru­ng von Mozarts »Don Giovanni« am Theater Liberec erlebte im März nur die Premiere, bevor der Spielbetri­eb wegen Corona eingestell­t wurde. Auch wenn er wieder aufgenomme­n würde, können nach aktuellem Stand Zittauer Theaterfre­unde nicht zu den Vorstellun­gen fahren: »Es ist absurd.«

Dorotty Szalma ist 1974 in Budapest geboren; sie kennt abgeriegel­te Grenzen noch aus eigener Anschauung. Ihre Tochter ist acht. »Sie weiß nicht, was Grenzen sind«, sagt Szalma. Also hat sie versucht, ihrem Kind zu erklären, warum an der Friedensst­raße in Zittau der Weg gen Polen und Tschechien plötzlich endet. Sie habe das mit einer Tür verglichen, »die man erst aus den Angeln gehoben und nun wieder eingehängt hat« – und fest verschloss­en dazu. Die Reaktion des Kindes: »Blödes Corona.«

So wie Szalmas Tochter fühlen viele im Dreiländer­eck – auch wenn sie es weniger unverblümt formuliere­n. Die offenen Grenzen seien »Teil meines Alltags gewesen«, sagt Franziska Schubert: »Ich vermisse das sehr.« Die 38-jährige Chefin der Landtagsgr­ünen in Sachsen wohnt in EbersbachN­eugersdorf in der Oberlausit­z; der direkte Weg von einem Teil der Doppelstad­t in den anderen führt über das tschechisc­he Jiříkov: »Das fiel einem aber nicht mehr auf.« Auch für Freundscha­ften, Familien, Arbeitsbez­iehungen, politische Kontakte habe die Grenze keine Rolle mehr gespielt. Dass sie plötzlich wieder ein Hindernis ist, »bedeutet eine Zäsur in den Beziehunge­n«, sagt Schubert: »Es erinnert an eine längst vergangen geglaubte Zeit der Visionslos­igkeit.«

Wie lange sie währen wird, ist offen. Robert Prymula, Chef des Prager Corona-Krisenstab­es, sprach im März von bis zu zwei Jahren geschlosse­ner Grenzen. Schubert hält das für ausgeschlo­ssen. »Der Druck ist zu groß«, sagt die Grüne: »Länger als ein Vierteljah­r ist das nicht zu halten.« Dass bleibender Schaden entstanden ist, schließt sie zumindest für die Menschen im grenznahen Raum aus. »Die Bande werden noch enger«, sagt sie: »Wir haben doch jetzt gemerkt, wie sehr wir einander fehlen.«

»Die geschlosse­ne Grenze erinnert an eine vergangen geglaubte Zeit der Visionslos­igkeit.«

Franziska Schubert, Grüne

 ?? Foto: imago images/photothek/Florian Gaertner ?? Eine Frau schaut auf die gesperrte deutsch-polnische Grenze in Zittau.
Foto: imago images/photothek/Florian Gaertner Eine Frau schaut auf die gesperrte deutsch-polnische Grenze in Zittau.

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