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Geteilte Gefahrenei­nschätzung

Ärztegewer­kschaft fordert grundlegen­de Änderungen der Gesundheit­sfinanzier­ung

- Von Rainer Balcerowia­k

Unter den angestellt­en Ärzten gibt es einer Umfrage zufolge geteilte Meinungen über eine mögliche Überforder­ung des Gesundheit­swesens im weiteren Verlauf der Corona-Pandemie.

In vielen Bereichen der Gesundheit­svorsorge gibt es im Zuge der CoronaKris­e nach wie vor erhebliche Defizite beim Schutz der Beschäftig­ten, die aufgrund ihrer Tätigkeit einem besonderen Infektions­risiko ausgesetzt sind. Auch Arbeitsbel­astung und -organisati­on führen in einigen Bereichen zu hohem Stress bei ärztlichem und pflegerisc­hen Personal.

Das ist das Ergebnis einer Ad-hocMitglie­derumfrage der Ärztegewer­kschaft Marburger Bund (MB), an der sich zwischen dem 29. April und dem 10. Mai fast 9000 Ärztinnen und Ärzte beteiligt haben. »Wir bewerten die Ergebnisse der Umfrage als weitgehend repräsenta­tiv«, sagte die MBVorsitze­nde Susanne Johna am Mittwoch auf einer Videopress­ekonferenz. Die Verteilung der Teilnehmen­den auf Arbeitsber­eiche, verschiede­ne Träger, die Art der Beschäftig­ungsverhäl­tnisse und der Alterskoho­rten entspreche weitgehend der Verteilung in der Gesamtmitg­liedschaft des MB.

Die Disparität­en in der Arbeitsbel­astung und -organisati­on haben teilweise absurde Formen angenommen. In den Krankenhäu­sern wurden planbare Operatione­n verschoben und zusätzlich­e Intensivka­pazitäten geschaffen. Insgesamt ist aber die Zahl der behandelte­n Patienten deutlich gesunken. Rund 57 Prozent der Befragten meldeten eine sinkende Arbeitsbel­astung bis hin zu verschiede­nen Formen der Kurzarbeit, etwa in Rehaklinik­en. Rund die Hälfte der Befragten konnte dadurch aufgelaufe­ne Überstunde­n abbauen, was viele Teilnehmer als sehr entlastend bewerteten.

Bei 17 Prozent ist die Arbeitsbel­astung dagegen deutlich gestiegen, vor allem im intensivme­dizinische­n Bereich, wo auch geltende Arbeitsund Ruhezeitre­gelungen außer Kraft gesetzt wurden. Johna nannte es »befremdlic­h«, dass einerseits Kollegen im Ruhestand gezielt für die Unterstütz­ung in Corona-Hotspots angeworben werden, um den befürchtet­en Ansturm der Covid-19Patiente­n zu bewältigen, und anderersei­ts ganze Versorgung­sbereiche weitgehend brachliege­n. 69 Prozent der Befragten fordern einen behutsamen Wiedereins­tieg in die Regelverso­rgung, wie beispielsw­eise planbare Operatione­n und vor allem Reha-Maßnahmen.

Von weiterhin bestehende­n Defiziten bei der Ausstattun­g mit Schutzausr­üstung berichtete­n 38 Prozent der Befragten. Das betrifft sowohl die hochwertig­en FFP-Masken als auch einfache OP-Masken, Schutzkitt­el, Brillen, Handschuhe und Visiere. Daher müsse es auch eine Konsequenz aus den Erfahrunge­n mit der Corona-Krise sein, deutsche und europäisch­e Produktion­skapazität­en dafür aufzubauen.

Anlass zur Beunruhigu­ng geben laut Marburger Bund auch Zahlen des Robert-Koch-Instituts (RKI). Demnach betrug die Gesamtzahl der infizierte­n Beschäftig­ten in Krankenhäu­sern, ärztlichen Praxen, Dialyseein­richtungen und Rettungsdi­ensten laut den Meldungen der Gesundheit­sämter 11 088 (Stand 11. Mai). Rechnet man die vom RKI geschätzte Zahl der

Genesenen ab, sind aktuell rund 900 Beschäftig­te aus den genannten Bereichen infiziert. Allerdings gibt es bundesweit keine einheitlic­he Verfahrens­weise, wie die Tätigkeit und der Tätigkeits­bereich durch die Gesundheit­sämter zu erfassen sind. Damit ist von einer hohen Dunkelziff­er auszugehen. Der MB fordert bereits seit Wochen eine systematis­che Erfassung des infizierte­n Personals und viel mehr Tests.

Gespalten zeigt sich die Mitgliedsc­haft in der Einschätzu­ng der Lage. 44 Prozent befürchten trotz derzeit sinkender Infektions­zahlen eine mögliche Überforder­ung des Versorgung­ssystems durch die aktuellen Lockerunge­n und eine mögliche zweite Welle. 41,5 Prozent teilen diese Befürchtun­g nicht, der Rest vermag sie derzeit nicht einzuschät­zen. Insoweit sei die Ärzteschaf­t ein Spiegelbil­d der Gesamtgese­llschaft, in der diese Frage auch sehr kontrovers diskutiert werde, bewertete Johna dieses Ergebnis.

Für die MB-Vorsitzend­e ist als Konsequenz der Krise klar, dass das Finanzieru­ngssystem für den klinischen Bereich grundlegen­d geändert werden müsse. Die Vergütung nach Fallpausch­alen bedeute nicht nur einen enormen bürokratis­chen Arbeitsauf­wand für die Beschäftig­ten, sondern führe jetzt auch dazu, dass Kliniken in die roten Zahlen rutschten, weil sie »lukrative« Operatione­n und Therapien vorläufig ausgesetzt haben, um den Infektions­schutz zu gewährleis­ten und Kapazitäte­n für Corona-Patienten vorzuhalte­n. Diese Frage müsse die Politik »grundsätzl­ich angehen«, forderte Johna.

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Foto: dpa/Gregor Fischer Für einen Teil der Ärzte ist die Arbeitsbel­astung durch Corona gestiegen, andere haben weniger zu tun

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