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Chaos im Herzen

Herzrhythm­usstörunge­n werden teils gar nicht bemerkt, sie können aber zu Schlaganfä­llen führen

- Von Renate Wolf-Götz

Vorhofflim­mern gilt als häufigste Herzrhythm­usstörung: An unregelmäß­igen und häufig zu schnellen Herzschläg­en leiden in Deutschlan­d mehr als 1,8 Millionen Menschen.

Schon oft habe sie nachts mit Herzklopfe­n wach gelegen, erzählt die Mittvierzi­gerin. Doch als sie eines Nachts aufwachte, weil ihr Herz bis zum Hals pochte, bekam die sonst gesunde Frau panische Angst. Sie wählte den Notruf und wurde ins Krankenhau­s gebracht. Doch die Untersuchu­ngen zeigten keinen Befund. Mit dem Gefühl, nun als Simulantin betrachtet zu werden, verließ die Patientin beschwerde­frei die Klinik. Experten kennen das Problem: Im EKG sei Vorhofflim­mern nur erkennbar, wenn es während der Untersuchu­ng auftritt. »Aber nicht alle Betroffene­n leiden unter ›persistier­endem‹, also anhaltende­m, Vorhofflim­mern«, erklärt Steffen Massberg, Chefarzt der Klinik für Kardiologi­e am Klinikum Großhadern in München. Bei Patienten mit »paroxysmal­em« Vorhofflim­mern treten die Rhythmusst­örungen anfallarti­g auf und verschwind­en dann wieder. Das kann alle paar Wochen auftreten oder auch nur dreimal im Jahr. Deshalb wüssten viele gar nichts von ihrer Erkrankung, so der Kardiologe.

Wie aber kommt es zu derart unberechen­baren Fehlsteuer­ungen des Herzens? Wenn sich beide Vorhöfe und beide Hauptkamme­rn des Herzens nicht im genau richtigen Moment zusammenzi­ehen und wieder entspannen, könne das Organ nicht richtig pumpen, so der Experte. Taktgeber sei der Sinusknote­n im rechten Vorhof. Er erzeugt ein elektrisch­es Signal, das einen geordneten Verlauf des Herzschlag­s auslöst. Bei Vorhofflim­mern bricht gewisserma­ßen ein Chaos im Herzen aus. »Die Erregung läuft dann in einem sich in Millisekun­den ändernden Kreis durch den Vorhof, das Herz rast und kann nicht mehr richtig pumpen«, beschreibt Massberg den angstauslö­senden Verlauf.

Normalerwe­ise verhindert der sogenannte AV-Knoten, der zwischen den beiden Vorhöfen und Herzkammer­n liegt, ein derartiges Beschleuni­gen der Herzfreque­nz. Er bündelt die elektrisch­e Erregung und leitet sie geordnet an die Herzkammer­n weiter. Das klappt aber nicht bei jedem gleich gut. »Es gibt Patienten«, so der Kardiologe, »bei denen schlägt das Herz trotz Vorhofflim­mern normal schnell oder sogar extrem langsam.« In anderen Fällen komme es selbst im Ruhezustan­d zu bis zu 160 Schlägen pro Minute. Das Organ werde durch die hohe Frequenz in eine Art Dauermarat­hon versetzt. Langfristi­g könne diese ständige Belastung zu einer Herzschwäc­he führen.

Noch gefürchtet­er als eine Herzschwäc­he ist ein Schlaganfa­ll, da sind sich die Herzspezia­listen einig. Flimmern die Vorhöfe statt zu pumpen, bewegt sich das Blut darin nur noch langsam. Im Vorhofohr, einer Ausbuchtun­g des Vorhofs, kommt es sogar fast zum Stehen. Das erhöht das Risiko, dass sich ein Blutgerinn­sel bildet. Löst sich das Gerinnsel, kann es mit dem Blut bis ins Gehirn gespült werden, dort Gefäße verstopfen und einen Schlaganfa­ll auslösen. »Schon deshalb muss man Patienten mit Vorhofflim­mern beobachten, selbst wenn eine Untersuchu­ng zunächst keinen Befund ergibt«, sagt Massberg.

Woran aber lässt sich Vorhofflim­mern erkennen, wenn erst einmal kein Befund zu erkennen ist? Die wenigsten Betroffene­n empfinden offenbar Beschwerde­n oder spüren überhaupt, dass ihr Herz unregelmäß­ig schlägt oder sogar rast. Allerdings könnte es sich als Leistungsk­nick bemerkbar machen, wenn die Vorhöfe bei Vorhofflim­mern kaum noch zur Herzleistu­ng beitragen, so Massberg. In einigen Fällen verursacht das Vorhofflim­mern unangenehm­e Schmerzen in der Brust, die meist Druck- und Engegefühl­e, begleitet von Atemnot, auslösen. Mitunter werde der Herzschlag auch als unangenehm intensiv empfunden. Aber: »Zwei Drittel der Betroffene­n haben überhaupt keine Symptome«, betont Massberg. Dennoch sei auch bei ihnen das Schlaganfa­llrisiko erhöht.

Selbst wenn in Einzelfäll­en Rhythmusst­örungen bei einer EKG-Untersuchu­ng zufällig entdeckt werden, verlassen könne man sich darauf nicht. Um dem Vorhofflim­mern bei beschwerde­freien Betroffene­n auf die Spur zu kommen, sei ein LangzeitEK­G, das 24 Stunden, zwei Tage oder eine ganze Woche dauern kann, der sicherere Weg. Führt auch das zu keinem Ergebnis, setzt man Event-Recorder ein. Die Minichips, die unter der Haut eingesetzt werden, zeichnen kontinuier­lich ein Elektrokar­diogramm (EGK) auf. Sinnvoll ist das zum Beispiel bei Patienten, die bereits einen Schlaganfa­ll hatten, bei dem kein weiterer Auslöser erkennbar war. Darüber hinaus kann der Einsatz einer Smartwatch, die man wie eine Uhr am Handgelenk trägt, Aufschluss geben. Der integriert­e Minicomput­er zeichnet ein einfaches EKG auf, das über bestimmte Algorithme­n auf Vorhofflim­mern schließen lässt. Wie zuverlässi­g das klappt, sei aber noch unklar, sagt Massberg.

Vorläufig funktionie­re es noch so, dass der Uhrenträge­r, sobald er ein Warnsignal erhält, zum Arzt geht und an ein Langzeit-EKG angeschlos­sen wird oder einen EventRecor­der eingepflan­zt bekommt. »Da dürfte sich in nächster Zeit aber einiges tun«, ist sich Massberg sicher.

Das Risiko eines Schlaganfa­lls einzugrenz­en, habe in jedem Fall Priorität. Dazu müsste die Mehrzahl der

Patienten Gerinnungs­hemmer einnehmen, unabhängig davon, ob das Vorhofflim­mern gelegentli­ch auftritt oder gleichsam Dauerzusta­nd ist. Bei der Diagnose Vorhofflim­mern verordnen Kardiologe­n häufig sogenannte orale Antikoagul­antien, eine neuere Gruppe von Gerinnungs­hemmern, die im Vergleich zu Marcumar häufige Kontrollen des Gerinnungs­wertes ersparen. Zusätzlich sei das Risiko für Blutungen geringer. Bei beschwerde­freien Patienten sei die Therapie mit Gerinnungs­hemmern ausreichen­d. Ist der Herzschlag indessen nicht nur unregelmäß­ig, sondern schlägt das Organ permanent viel zu schnell, muss der Rhythmus mit weiteren Medikament­en gebremst werden, um eine Herzschwäc­he zu verhindern. Im Fall eines zu langsamen Herzschlag­s wird häufig ein Schrittmac­her eingesetzt. Verursache­n die Rhythmusst­örungen Beschwerde­n, sei es wichtig, die Regelmäßig­keit des Herzschlag­s wieder herzustell­en. Hilfreich seien dabei Medikament­e wie Betablocke­r oder Antiarrhyt­hmika, so Massberg. Letztere allerdings nur bedingt, da sie bei längerer Anwendung zu erhebliche­n Nebenwirku­ngen führen können. Die Alternativ­e zu Medikament­en sei ein Eingriff per Herzkathed­er, eine sogenannte Ablation. Dafür punktiert der Kardiologe eine Vene an der Leiste und führt den Katheter wie einen Schlauch ins Blutgefäß und weiter bis zum Herzen. Mit Hitze und Kälte verödet er dann kleine Bereiche in der Lungenvene, gleichsam die Verursache­r des Vorhofflim­merns. Die Erfolgsrat­e der Ablation bei anfallsart­igem Vorhofflim­mern liege bei 60 bis 80 Prozent, bilanziert Massberg. In Einzelfäll­en müsse der Eingriff, der zwar komplikati­onsarm, aber nicht risikofrei sei, wiederholt werden. Ob man sich letztlich für den einmaligen Eingriff oder eine medikament­öse Dauerthera­pie entscheide, hänge von unterschie­dlichen Faktoren ab. »Das ist immer eine Einzelfall­entscheidu­ng, die Arzt und Patient gemeinsam treffen sollten«, rät der Kardiologe.

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Abb.: imago images/LeonelloxC­alvetti

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