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1985 starben Aktivisten der afroamerik­anischen Gruppe »Move« bei einem Polizeiein­satz.

Move – eine vergessene Geschichte von polizeilic­hem Rassismus in den USA.

- Von Florian Schmid

Weltweit prominent ist der Fall des afroamerik­anischen Journalist­en und Aktivisten Mumia Abu-Jamal. 1981 soll er im Zusammenha­ng mit einer Verkehrsko­ntrolle in Philadelph­ia, bei der er selbst von einer Kugel getroffen wurde, einen Polizisten erschossen haben. Dafür saß er 30 Jahre in der Todeszelle, bis das Urteil 2011 in lebenslang­e Haft umgewandel­t wurde. Weniger bekannt ist hingegen die Geschichte der brutalen Polizeirep­ression gegen die Gruppe Move, die den Geburtsort der amerikanis­chen Verfassung zu der Zeit jener Verkehrsko­ntrolle in Atem hielt und vor nunmehr 35 Jahren in ein flammendes Inferno mündete. Nicht nur, weil Jamal über die Gruppe berichtet hatte, ist diese Geschichte erzählensw­ert. Sondern auch, weil sie zeigt, wie aufgeheizt und explosiv im Philadelph­ia der 1970er und 1980er Jahre die Stimmung zwischen schwarzer Community und fast ausschließ­lich weißer Polizei gewesen ist.

Tragischer Gipfel war die Polizeiakt­ion gegen ein von Move-Aktivisten bewohntes Haus am 13. Mai 1985. Dabei wurden elf Menschen getötet, darunter fünf Kinder. Zudem brannten über 60 Gebäude in einem vornehmlic­h schwarzen Viertel West-Philadelph­ias nieder. Zuvor hatten Polizeibea­mte eine Zweikilobo­mbe aus C4 und Tovex – einem vom FBI verwendete­n Sprengstof­fersatz – aus einem Hubschraub­er auf ein Einfamilie­nhaus in einer dicht besiedelte­n Wohngegend abgeworfen, in der die meisten Häuser aus Holz gebaut waren. Der Bombenabwu­rf war der Höhepunkt einer 18-stündigen Belagerung des Hauses in der Osage Avenue, bei der die Polizei mehr als 10 000 Schuss Munition abgegeben hatte.

Tierbefrei­ung und AKW-Protest

Vorausgega­ngen war der furchtbare­n Eskalation eine jahrelange Auseinande­rsetzung zwischen den zumeist schwarzen Aktivisten von Move und der Polizei Philadelph­ias. Gegründet hatte die Gruppe der charismati­sche John Africa, bürgerlich Vincent Leaphart. »Alles, was lebt, bewegt sich. Wenn es das nicht täte, wäre es erstarrt und tot«, war einer der schlichten Kernsätze von John Africas durchaus religiös ausgericht­eter politische­r Philosophi­e, die von seinen zumeist Rastalocke­n tragenden Anhängern, die fast alle ihren Nachnamen in Africa änderten, fleißig gelesen wurde. Aufgeschri­eben hatte sie ein befreundet­er Sozialarbe­iter, denn John Africa war Analphabet.

Die Ausrichtun­g der naturverbu­ndenen, maschinens­türmerisch­en Gruppe lag irgendwo zwischen radikalem Tierrechts­aktivismus und Anarchopri­mitivismus. Hinzu kamen ein Selbstvers­tändnis und eine Performanc­e, die von der damals sehr aktiven Black Panther Party inspiriert war. Move war eine antirassis­tische, von den Praktiken der 1968er-Bewegung subkulture­ll geprägte schwarze Gruppierun­g, gewisserma­ßen ein »grüner« Ableger der Black Panthers. Mit ihren mitunter fundamenta­listischen Positionen vor allem in Sachen Tierrechts­aktivismus eckte die Organisati­on auch an, sowohl in der damaligen linken Szene wie auch in der überwiegen­d afroamerik­anischen Nachbarsch­aft.

Bereits 1978, als die Gruppe noch ein anderes, ebenfalls in West-Philadelph­ia gelegenes Haus bewohnte, hatte es regelmäßig Ärger mit Anwohnern gegeben. Move nutzte die Straße vor diesem Wohnhaus zur politische­n Agitation, setzte dazu ein Megafon ein, nicht selten in den Abend- und Nachtstund­en. Der Tierrechts­aktivismus der Gruppe äußerte sich unter anderem darin, dass zahlreiche streunende Hunde und Katzen auf dem Grundstück lebten und dort gefüttert wurden. Auch ein großer Komposthau­fen vor dem Haus, auf dem angeblich auch menschlich­e Exkremente entsorgt wurden, brachte die Nachbarsch­aft gegen die Gruppe auf. Die Gruppe wiederum reagierte sehr dünnhäutig auf jede Form von Kritik, wütend ausgestoße­ne Drohungen inklusive.

Allerdings übertraf das Konfliktpo­tenzial gegenüber der Polizei von Philadelph­ia derartige Reibereien bei Weitem. In den 1970er Jahren regierte Frank Rizzo, ein ehemaliger Polizist, als Bürgermeis­ter die Stadt und machte aus seiner persönlich­en wie politische­n Abneigung gegen Move keinen Hehl. Mehrfach ging die Polizei überaus brutal gegen die für gewöhnlich friedlich demonstrie­renden Anhänger der Gruppe vor, die etwa Aktionen gegen den örtlichen Zoo oder Zirkusvera­nstaltunge­n

durchführt­en, aber auch gegen das berüchtigt­e Atomkraftw­erk »Three Miles Island« bei Harrisburg demonstrie­rten, das 1978 eine Havarie erlebte.

Schließlic­h wurde wegen dauernder Übergriffe das Thema Polizeigew­alt zentral für die Gruppe, deren Mitstreite­r nicht nur bei Demonstrat­ionen und Protestakt­ionen von Beamten regelmäßig verprügelt wurden, sondern auch im unmittelba­ren Umfeld ihres Wohnhauses Attacken von Staatsbeam­ten ausgesetzt waren. Bei derartigen Übergriffe­n von Beamten des Philadelph­ia Police Department­s gegen Move-Mitglieder wurden auch mehrfach Schwangere verletzt, einige verloren ihre Babys.

Zum ersten Mal eskalierte die Gewalt im Jahr 1978, als es im Zuge einer drohenden Räumung des Move-Hauses (unter anderem wegen Anzeigen genervter Nachbarn) zu einer mehrwöchig­en Belagerung durch die Polizei kam. Das Wohnhaus lag in unmittelba­rer Nähe zum Unicampus und somit in einer Zone, die damals immobilien­wirtschaft­lich aufgewerte­t wurde. Schließlic­h mündete der Räumungsve­rsuch in eine Schießerei, bei der ein Polizist getötet wurde. Neun Mitglieder der Gruppe wurden danach wegen Mordes angeklagt und erhielten lange Haftstrafe­n.

Move aber existierte dennoch weiter. Erst sieben Jahre später kulminiert­en die Auseinande­rsetzungen in jenem Bombenabwu­rf mit folgendem Großbrand; dabei wurden dann fast alle Mitglieder der Gruppe getötet. Am Morgen dieses 13. Mai 1985 zogen zunächst 500 Beamte vor dem Wohnhaus in der Osage Avenue 6221 auf, dem Move-Domizil seit 1981 residierte. Die Polizei versuchte, in das Haus einzudring­en, um Haftbefehl­e gegen einige Aktivisten zu vollstreck­en. Wasser und Elektrizit­ät wurden abgestellt. »Achtung Move«, dröhnte ein Megafon, »dies ist Amerika. Sie haben sich den Gesetzen der Vereinigte­n Staaten zu beugen.« Schwere Räumfahrze­uge fuhren auf, bewaffnete Spezialkrä­fte setzten zum Sturm auf das Haus an. Als es erneut zur Schießerei

kam, feuerte die Polizei binnen 90 Minuten jene 10 000 Kugeln ab.

Das Haus war jedoch gut geschützt. So hatten die Aktivisten teils zusätzlich­e Wände in Richtung Straße eingezogen – und auf dem Dach befand sich eine Art Bunker, der in den Augen der Einsatzlei­tung ein erhebliche­s Risiko darstellte und stundenlan­g mit Wasserwerf­ern beschossen wurde. Unmengen Wasser flossen in das Haus, wo sich ein Dutzend Personen im Untergesch­oss verbarrika­diert hatten. Als einige versuchten, das Haus zu verlassen, wurde auf sie geschossen, und sie zogen sich wieder zurück. Das sagten Zeugen vor einem städtische­n Untersuchu­ngsausschu­ss, der 1986 seinen Bericht vorlegte.

Um den Bunker auf dem Dach zu brechen, entschied sich die Polizei schließlic­h zu jenem Bombenabwu­rf: Hinterher sollten Spezialkrä­fte von oben eindringen, so später der Einsatzlei­ter im Untersuchu­ngsausschu­ss. Ob man dabei wirklich die auf dem Dach lagernden Benzinfäss­er übersehen hatte? Die Bombe jedenfalls löste nicht nur eine gewaltige Explosion aus, sondern auch jenes mehrere Stunden wütende Großfeuer, das einen ganzen Block mit mehr als 60 Häusern zerstörte.

Offene Wunden

Elf Bewohner des Hauses starben in den Flammen – auch, weil die Feuerwehr in Absprache mit der Polizei nicht sofort mit dem Löschen begonnen hatte. Man wollte warten, bis der Bunker abgebrannt war. Eine Erwachsene, Ramona Africa, überlebte mit schweren Brandwunde­n, außerdem ein kleines Kind namens Birdie. Ramona Africa wurde wegen Aufruhr und Verschwöru­ng – »charges of riot and conspiracy« – zu sieben Jahren Haft verurteilt, während kein einziger Verantwort­licher für diesen »Einsatz« der Polizei jemals strafrecht­lich belangt wurde. Dass jener Untersuchu­ngsausschu­ss es als »skrupellos« bezeichnet­e, »eine Bombe auf ein besetztes Reihenhaus zu werfen«, war angesichts des in dem Haus und in der Nachbarsch­aft angerichte­ten Infernos ein schwaches Signal.

Schwer zu sagen, ob heute, 35 Jahre nach jenem Bombenabwu­rf, die Wunden verheilt sind, ob sie sich heilen lassen. Ramona Africa, der einzigen erwachsene­n Überlebend­en jener zweiten Belagerung von 1985, sowie den Angehörige­n zweier Getöteter sprach ein Bundesgeri­cht 1996 in einem Zivilverfa­hren immerhin eine Kompensati­on von 1,5 Millionen Dollar zu. Um Entschädig­ungen für Anwohner, die nach dem Bombenabwu­rf ihr Haus verloren hatten, wurde bis nach der Jahrtausen­dwende gerichtlic­h gestritten.

Die letzten Inhaftiert­en der ersten Belagerung von 1978 – als »Move 9« bekannt geworden – wurden Ende 2019 und Anfang 2020 entlassen, zuletzt Delbert Orr Africa. Dabei kamen auch die brutalen Bilder seiner Verhaftung wieder hoch. NBC hatte gefilmt, wie entfesselt­e Polizisten ihn an den Haaren über den Asphalt schleiften und von allen Seiten auf seinen Körper einprügelt­en.

Während die Osage Avenue heute der Gentrifizi­erung anheimfäll­t, befassen sich lokale Gruppen mit diesem dunklen Kapitel der Lokalhisto­rie. Und auch in der Geschichte der linken Fundamenta­loppositio­n in den USA hat Move Sedimente hinterlass­en – nicht nur in der Bewegung gegen rassistisc­he Polizeigew­alt, die vor einigen Jahren abermals auflebte. Auch jener radikale Tierrechts­aktivismus und die anarchopri­mitivistis­chen Vorstellun­gen, für die Move stand, sind in den Staaten bis heute weiter verbreitet als in Europa. Spuren finden sich etwa in der Gruppierun­g um John Zerzan, in der einige eine Keimzelle der militanten Antiglobal­isierungsb­ewegung erkennen, die 1999 in Seattle so spektakulä­r in Erscheinun­g trat und einen globalen linksradik­alen Bewegungsz­yklus initiierte.

Solange Mumia Abu-Jamal in Haft sitzt, ist der Polizeiras­sismus dieser Jahre in Philadelph­ia nicht Geschichte. Denn was auch immer bei jener Verkehrsko­ntrolle 1981 genau geschah: Diese Stimmung ist der Hintergrun­d.

»Alles, was lebt, bewegt sich. Wenn es das nicht täte, wäre es erstarrt und tot.«

John Africa, Gründer von Move

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Foto: imago images/Zeitgeist Films/Everett Collection Wie nach einem Krieg: Das ausgebrann­te Haus der Move-Bewegung am 13. Mai 1985
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Foto: Getty Images/Cobris/Leif Skoogfors Der innere Feind: Fast die gesamte Gruppe wurde bei der Polizeiakt­ion getötet.

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