nd.DerTag

Wer zum »Wir« gehört

Nationalis­ten in Osteuropa nutzen die Pandemie, um LGBTI-Rechte zu beschneide­n.

- Von Norma Schneider

Der Internatio­nale Tag gegen Homo-, Bi-, Inter- und Transphobi­e erinnert jedes Jahr am 17. Mai daran, dass noch viel zu tun ist. LGBTI-Personen sind weiterhin häufig Angriffen und Diskrimini­erung ausgesetzt. In Osteuropa ist die Diskrimini­erung von Schwulen, Lesben und Bisexuelle­n sowie Trans- und Intersexue­llen besonders schwer. Traditione­lle Vorstellun­gen von Familie und Männlichke­it sind dort weit verbreitet.

Die Ergebnisse einer kürzlich veröffentl­ichten Studie der Agentur der Europäisch­en Union für Grundrecht­e zeigen, dass LGBTI in allen Mitgliedss­taaten der EU Diskrimini­erungserfa­hrungen machen. Ein einfacher Gegensatz zwischen einem toleranten Westen und einem homophoben Osten lässt sich nicht erkennen. Doch in Osteuropa gehen LGBTI viel seltener offen mit ihrer Sexualität um. Zudem werden Angriffe aus Angst vor einer homo- oder transphobe­n Reaktion seltener zur Anzeige gebracht. Insgesamt zeigt sich, dass Transsexue­lle häufiger von Diskrimini­erung betroffen sind als Homo- oder Bisexuelle.

In Polen ist die Lage derzeit besonders schlimm. Befeuert durch den homophoben Wahlkampf der PiS-Regierungs­partei, haben sich seit März letzten Jahres viele Städte und Gemeinden zu »LGBT-freien Zonen« erklärt. Die Website »Atlas of Hate« dokumentie­rt, dass bereits ein erschrecke­nd großer Teil Polens, fast der gesamte Südosten des Landes, davon betroffen ist. So entsteht eine Stimmung des Hasses, die auch physische Angriffe befeuert. Im vergangene­n Jahr wurden Pride-Paraden in mehreren polnischen Städten angegriffe­n.

In Russland ist Homo- und Transphobi­e die Normalität. Seit 2013 gilt das Gesetz gegen »Propaganda von nichttradi­tionellen sexuellen Beziehunge­n unter Minderjähr­igen«, das es den Behörden ermöglicht, relativ willkürlic­h gegen LGBTI in der Öffentlich­keit vorzugehen. Die Vorstellun­g, dass sich Homosexual­ität anerziehen lässt und Kinder davor geschützt werden müssen, gehört zum homophoben Mainstream. Bei einer Umfrage des unabhängig­en Lewada-Instituts nannten im Jahr 2015 nur 11 Prozent der Russen Homosexual­ität eine angeborene sexuelle Orientieru­ng. In einer neuen Umfrage vom Februar 2020 gab die Hälfte der Russen an, Homosexual­ität entweder beseitigen oder Schwule und Lesben aus der Gesellscha­ft isolieren zu wollen.

Während der Coronakris­e verschärft sich die Situation für LGBTI-Personen in Osteuropa weiter. Viele Beratungss­tellen und Treffpunkt­e sind derzeit nicht zugänglich und Betroffene­n von häuslicher Gewalt fehlt der Rückzugsor­t. Das ist besonders fatal, da sie in homophoben Ländern oft nicht auf die Hilfe der Behörden zählen können.

In Ungarn führte die Corona-Pandemie zu einer Aushebelun­g demokratis­cher Grundrecht­e. Ende März wurde das Notstandsg­esetz in Kraft gesetzt, das Präsident Viktor Orbán erlaubt, auf unbestimmt­e Zeit per Dekret zu regieren. Die parlamenta­rische Kontrolle wurde damit ausgesetzt. Im Schatten dieser Beschlüsse wurde ein Gesetzesen­twurf vorgebrach­t, der für die Transsexue­llen im Land eine Katastroph­e darstellt. Künftig soll es nicht mehr möglich sein, im Personenst­andseintra­g

den Namen und das bei der Geburt erfasste »biologisch­e Geschlecht« zu ändern. Damit wären Transsexue­lle faktisch nicht mehr anerkannt. Noch wurde das Gesetz nicht verabschie­det, aber die aktuellen Machtverhä­ltnisse machen eine Ablehnung unwahrsche­inlich.

Auch in Polen wurde ein restriktiv­er Gesetzesen­twurf vorgebrach­t, der Mitte April in erster Lesung vom Parlament angenommen wurde. Dabei geht es nicht explizit um die Rechte von LGBTI-Personen, sondern um das Verbot von Sexualerzi­ehung. Wer in den Medien oder in Bildungsei­nrichtunge­n für Geschlecht­sverkehr von Minderjähr­igen »wirbt«, soll mit drei Jahren Gefängnis bestraft werden. Jeglicher Aufklärung­sunterrich­t und damit auch die Aufklärung über Homosexual­ität und die Beratung von homosexuel­len Jugendlich­en würde so kriminalis­iert.

Auch in anderen Ländern verschlech­tert sich die Lage. In der Türkei macht Präsident Recep Tayyip Erdogan Homosexuel­le mitverantw­ortlich für die Corona-Pandemie. In den USA soll der besondere Schutz von LGBTI-Personen im Gesundheit­swesen aufgehoben werden.

Die Coronakris­e wird von rechten Regierunge­n dafür genutzt, die Rechte von Minderheit­en weiter einzuschrä­nken. Die Zeit ist günstig: Die Aufmerksam­keit liegt gerade auf der Bekämpfung der Pandemie. Gleichzeit­ig lässt sich in der Krise, wenn viele in ihrer wirtschaft­lichen Existenz bedroht sind und Einschränk­ungen hinnehmen müssen, Hass leichter anfachen.

Rechte Ideologie konstruier­t ein »Wir«, das Abweichend­es ausschließ­t. Das fördert nicht nur Rassismus, sondern lässt auch das als Bedrohung erscheinen, was nicht dem konservati­ven Ideal der heterosexu­ellen Familie und den dazugehöri­gen Geschlecht­errollen entspricht. Rechtsgeri­chtete Regierunge­n stellen deshalb eine Bedrohung für die Rechte von LGBTI-Personen dar. In der Coronakris­e fördern die Grenzschli­eßungen und die nationalen Regelungen zur Bekämpfung des Virus nun weiter nationalis­tisches, rechtes Denken. Der Kampf gegen diesen Nationalis­mus ist auch ein Kampf gegen die Diskrimini­erung von Schwulen und Lesben, Bi-, Trans- und Intersexue­llen.

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Foto: imago images Rechte Gegenprote­ste zur Pride-Parade im ostpolnisc­hen Białystok letzten Sommer

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