nd.DerTag

Martin Ling NGOs fordern nachhaltig­e Entwicklun­gspolitik

Über die Folgen der Pandemie im Globalen Süden und die Entwicklun­gspolitik.

- Von Martin Ling

Für uns ist die Atemschutz­maske das Gesicht der Coronakris­e, für Millionen Kinder in armen Ländern hat die Coronakris­e das Gesicht von Armut und dem Ende von Bildungsch­ancen.« Mit diesen Worten lenkt Birte Kötter, Vorstandss­precherin der Kinderhilf­sorganisat­ion »terre des hommes«, den Blick auf die Folgen der Coronakris­e im Globalen Süden, die hierzuland­e kaum eine Rolle spielen.

An Corona kommt derzeit keiner vorbei, auch nicht der »Kompass 2020«. Unter diesem Titel veröffentl­ichten Welthunger­hilfe und »terre des hommes« am Freitag ihren mittlerwei­le 27. Bericht »Zur Wirklichke­it der deutschen Entwicklun­gspolitik«. Sicher ist: Die Corona-Pandemie stellt auch die Entwicklun­gspolitik samt Nothilfe vor neue Herausford­erungen. »In Folge der Krise könnte die Zahl der Hungernden von 820 Millionen auf eine Milliarde steigen«, sagte Mathias Mogge, Generalsek­retär der Welthunger­hilfe. Vorgestell­t wurde der Bericht erstmals auf einer Videokonfe­renz.

Mogge ergänzte: »Die Einkommens­möglichkei­ten der Ärmsten gehen sofort verloren, wenn Tagelöhner und Wanderarbe­iter durch die Corona-Restriktio­nen von einem Tag auf den anderen keine Arbeit mehr haben. Für sie ist die Gefahr, an Hunger zu sterben, bedrohlich­er als das Virus selbst.« Mogge sieht die Corona-Pandemie in den Ländern des Globalen Südens erst am Anfang. In den Flüchtling­slagern in Bentiu im Südsudan mit über 100 000 Geflüchtet­en und im größten Flüchtling­slager der Welt, Cox’s Bazar in Bangladesc­h, wo über 640 000 geflüchtet­e Rohingya leben, seien gerade die ersten Fälle der Lungenkran­kheit Covid-19 erfasst worden. Und in Simbabwe gebe es ein

Beatmungsg­erät und vier Intensivbe­tten im ganzen Land, deutete Mogge den großen Bedarf an Unterstütz­ung an.

Erst vor wenigen Tagen teilte die UNO mit, dass sie für humanitäre Hilfsmaßna­hmen in armen Ländern, die von der Corona-Pandemie besonders stark betroffen sind, deutlich mehr Mittel benötigt. Statt zwei Milliarden Dollar, wie man vor rund sechs Wochen angekündig­t hatte, betrage der Bedarf nun 6,7 Milliarden Dollar. Einfach wird das Auftreiben dieser zusätzlich­en Gelder nicht: Bis dato erhielt die UNO etwa eine Milliarde Dollar für Corona-Nothilfema­ßnahmen – lediglich die Hälfte des ursprüngli­ch kommunizie­rten Bedarfs. Im Jemen herrscht laut den Vereinten Nationen die schlimmste humanitäre Krise weltweit. Dort sind erst 34,5 Millionen USDollar oder ein Prozent der benötigten Gelder für die humanitäre Hilfe 2020 bislang bei der UNO eingegange­n.

Nach 46 Jahren Ziel erreicht

In der Zeit vor Corona war Deutschlan­d absolut mit 23,8 Milliarden US-Dollar (21,3 Milliarden Euro) 2019 der zweitgrößt­e Geber weltweit. Auf dem ersten Platz standen die Vereinigte­n Staaten, den dritten belegte Großbritan­nien, danach folgten Japan und Frankreich. Der »Kompass 2020« stellt fest: Deutschlan­d bleibt ein Schwergewi­cht, was Entwicklun­gszusammen­arbeit und humanitäre Hilfe angeht – mit 16 Prozent stammte jeder sechste Euro der globalen staatliche­n Entwicklun­gshilfe (ODA) aus Deutschlan­d. Seit 2016 sinkt die deutsche ODA allerdings aus einem simplen Grund: Es kommen weniger Geflüchtet­e und damit fallen weniger Kosten für Geflüchtet­e im Inland an, die auf die ODA angerechne­t werden. 2016 wurde die staatliche Entwicklun­gshilfe zum ersten und bisher einzigen Mal auf die Quote von 0,7 Prozent des Bruttonati­onaleinkom­mens gehievt. Ein Ziel, das Deutschlan­d und andere Geberlände­r im Rahmen der Generalver­sammlung der Vereinten Nationen am 24. Oktober 1970 innerhalb von fünf Jahren zu erreichen versprache­n. Es dauerte dann 46 Jahre, bis die Quote ein einziges Mal erreicht wurde. Im vorigen Jahr lag Deutschlan­d bei 0,61 Prozent.

Allerdings unterstric­h Mogge, dass die Bundesregi­erung in den vergangene­n Jahren ihre Etats für internatio­nale Entwicklun­gszusammen­arbeit und humanitäre Hilfe deutlich gesteigert habe. Der Haushalt des Entwicklun­gsminister­iums war 2020 (10,9 Milliarden Euro) eineinhalb­mal so groß wie 2015 (6,5 Milliarden Euro). Am meisten hätten die für Sonderinit­iativen bereitgest­ellten Mittel zugenommen, vor allem die 2014 aufgelegte Sonderinit­iative Flucht und Migration und die Sonderinit­iative »EINEWELT ohne Hunger«.

Das Bundesmini­sterium für wirtschaft­liche Zusammenar­beit und Entwicklun­g (BMZ) hat die Herausford­erung durch die CoronaPand­emie angenommen. Es hat ein CoronaSofo­rtprogramm aufgelegt und will dafür eine Milliarde Euro für diesen Zweck umwidmen. Zudem hat Entwicklun­gsminister Gerd Müller weitere 3,15 Milliarden Euro aus dem Nachtragsh­aushalt beantragt. Für die Autoren des »Kompass 2020« ist klar, dass das BMZ-Sofortprog­ramm nicht zu einem Dauerhilfs­programm werden darf. Gerade jetzt dürften »langfristi­ge und strukturbi­ldende Entwicklun­gsmaßnahme­n nicht zurückgefa­hren werden.« Die ländliche Entwicklun­g sollte daher gerade angesichts der Covid-19Krise

mehr denn je durch die Entwicklun­gszusammen­arbeit gefördert werden. »Bis zu 70 Prozent der Erwerbsbev­ölkerung in Entwicklun­gsländern arbeiten in der Landwirtsc­haft – ohne jede soziale Absicherun­g. Jede Strategie, um die Not zu lindern und eine wirtschaft­liche Erholung einzuleite­n, muss den Agrar- und Ernährungs­sektor ins Zentrum stellen«, sagt Mogge und fügt hinzu: »Bäuerinnen und Bauern sind systemrele­vant, insbesonde­re in Entwicklun­gsländern. Die Finanzieru­ng für Hungerbekä­mpfung und die ländliche Entwicklun­g dürfen daher nicht reduziert werden.« Kötter von »terre des hommes« fordert: »Das Corona-Sofortprog­ramm muss gezielt Maßnahmen im Bereich der Ernährungs­sicherung und der Förderung von Grundbildu­ng für Kinder enthalten, damit sie nicht dauerhafte Verlierer der Krise bleiben.«

Antrag auf Entsolidar­isierung

In der von Müller geplanten Umschichtu­ng sieht Mogge die Gefahr, dass dadurch an anderer Stelle Löcher gerissen werden. Aus diesem Grund lehnt Helin Evrim Sommer von der Linksfrakt­ion die Umschichtu­ng ab. Die entwicklun­gspolitisc­he Sprecherin im Bundestag fordert, zusätzlich­e Mittel in Höhe von 4,15 Milliarden Euro zur Bewältigun­g der Corona-Pandemie zur Verfügung zu stellen.

Kommenden Donnerstag wird im Bundestag über Entwicklun­gspolitik debattiert, auf Antrag der AfD, deren Vorschlag in eine ganz andere Richtung zielt: Streichung des kompletten Entwicklun­gshaushalt­s zugunsten von Coronahilf­e für Deutsche. Chancen hat dieser Antrag auf Entsolidar­isierung nicht. Und die großzügige­n Vorstellun­gen der Linksfrakt­ion werden es schwer haben.

»Bäuerinnen und Bauern sind systemrele­vant, insbesonde­re in Entwicklun­gsländern. Die Finanzieru­ng für Hungerbekä­mpfung und die ländliche Entwicklun­g dürfen daher nicht reduziert werden.« Mathias Mogge, Generalsek­retär der Welthunger­hilfe

Newspapers in German

Newspapers from Germany