nd.DerTag

Inga Dreyer Merle Stöver zieht gegen ihren Stalker vor Gericht

Die Feministin Merle Stöver wird seit fast drei Jahren gestalkt. Sie hat den Täter angezeigt und spricht öffentlich über ihre Erfahrunge­n – auch, um andere in solchen Situatione­n zu stärken. Von Inga Dreyer

-

Eines Abends saß der unbekannte Mann in einem ihrer Vorträge. Merle Stöver sprach damals, im Juni 2017, in einem Antifa-Café zu Antisemiti­smus und Geschlecht­erverhältn­issen. Die Feministin und Antisemiti­smusexpert­in war in jenen Tagen viel unterwegs – sie bloggte, postete auf Social-Media-Plattforme­n, sprach auf Podien. Der Mann im Publikum schickte ihr später eine Freundscha­ftsanfrage auf Facebook – so, wie es viele tun. Merle Stöver nahm die Anfrage an, denn häufig gibt es noch Diskussion­sbedarf. »Er schrieb mir daraufhin, dass mein Vortrag so klug war und dass er sich in mich verliebt hätte«, erzählt die Journalist­in, die im Master Interdiszi­plinare Antisemiti­smusforsch­ung studiert.

Der Mann wurde penetrante­r. »Teilweise meldete er sich im Minutentak­t – auch nachts«, berichtet die 25-Jährige. Anfangs beteuerte er seine Zuneigung. »Doch das hat sich geändert, als ich auf Facebook etwas über Feminismus und sexualisie­rte Gewalt geschriebe­n habe.« Daraufhin schlugen seine Liebesschw­üre in Beleidigun­gen um: Schlampe, Fotze, Hure. »Er meinte, er hätte sich in mir getäuscht. Dann hat er angefangen, meinem Partner zu schreiben und dessen Männlichke­it infrage zu stellen«, erzählt Merle Stöver. Die Bedrohunge­n wurden immer drastische­r. »Irgendwann schrieb er meinem Partner, dass er mich vor dessen Augen vergewalti­gen will.« An diesem Punkt entschied sie, ihn anzuzeigen.

Merle Stöver berichtet gefasst von dem, was sie in den letzten Jahren erlebt hat. Sie sitzt in ihrer Berliner Wohnung vor einer grünen Wand, violette Tulpen in der Vase, hinter ihr ein Porträt von Marlene Dietrich und eine Büste von Karl Marx. Trotz ihrer Ruhe wird spürbar, dass die Erzählung Kraft kostet. Die eigene Verletzlic­hkeit zu offenbaren, gehört für sie zum Prozess der Selbstermä­chtigung dazu. »Ich finde es total wichtig, sich getroffen zu zeigen. Nichts von dem, was da passiert ist, hat mich kaltgelass­en«, betont sie.

Sie spricht unter anderem mit Journalist*innen über ihre Erfahrunge­n. Außerdem haben ihre Anzeigen und Ermittlung­en der Polizei dazu geführt, dass sich der Stalker vor Gericht verantwort­en soll. Merle Stöver rechnet mich einem Prozesster­min im Laufe des Jahres. »Ich habe gerade die Ressourcen, das zu machen«, sagt sie. Andere, die in ähnlichen Situatione­n sind, können das aus verschiede­nen Gründen vielleicht nicht.

Stalking kann Menschen psychisch ans Ende ihrer Kräfte bringen. Es zermürbt, beschert Ängste, Albträume, ein immerwähre­ndes Gefühl der Bedrohung. Auslöser sind häufig das Zerbrechen von Beziehunge­n. Ehemalige Partner*innen oder Liebhaber*innen wollen die Trennung nicht wahrhaben und versuchen weiterhin Macht über die andere Person auszuüben. Häufiger sind es Frauen, denen ihre Ex-Partner nachstelle­n, doch auch Männer sind betroffen. Auch muss dem Stalking keine Liebesbezi­ehung vorausgega­ngen sein, wie das Beispiel von Merle Stöver zeigt. Es muss nicht einmal persönlich­en Kontakt gegeben haben. »Soweit ich mich erinnere, habe ich überhaupt nicht mit ihm gesprochen«, sagt sie.

2007 wurde der Straftatbe­stand der »Nachstellu­ng« eingeführt. Laut Paragraf 238 im Strafgeset­zbuch wird mit einer Freiheitss­trafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft, wer einer anderen Person unbefugt auf eine Weise nachstellt, »die geeignet ist, deren Lebensgest­altung schwerwieg­end zu beeinträch­tigen«. Das kann auch übers Telefon oder Internet passieren. Im Onlinebere­ich spricht man von Cyberstalk­ing.

Ihrer Erfahrung nach handele es sich meist um Mischforme­n, sagt Leena Simon, IT-Expertin und Netzphilos­ophin, die beim AntiStalki­ng-Projekt des FRIEDA-Frauenzent­rums in Berlin Frauen berät. Dass Cyberstalk­ing immer mehr zunimmt, sei kein Wunder. »Je mehr wir unseren Alltag und unsere Kommunikat­ion im digitalen Raum stattfinde­n lassen, umso mehr wandern auch die damit

»Feministin zu sein bedeutet für mich, über die Scheiße zu reden, die einer passiert – und sich dafür einzusetze­n, dass sie anderen Frauen nicht passiert.«

verbundene­n Gewalttate­n in den digitalen Raum. Diskrimini­erung hat online einen neuen Raum gefunden.«

Ob analog oder digital: Stalking bleibt Stalking und kann juristisch verfolgt werden. Eine Anzeige könne zwar in seltenen Fällen zu einer Eskalation der Situation führen, warnt die Berliner Beratungss­telle StopStalki­ng. In einigen Fällen aber reiche eine Anzeige aus, damit der oder die Beschuldig­te das eigene Verhalten ändere. Um die Folgen abzuschätz­en, sei eine Beratung sinnvoll, rät die Beratungss­telle.

Nach der ersten Anzeige schien Merle Stövers Stalker tatsächlic­h ruhiger geworden zu sein. Dann aber ging es wieder los. »Er schrieb, dass ich mich nicht aufspielen solle und der Staatsanwa­ltschaft meine Anzeige wohl nicht wichtig genug sei, erzählt sie. Nachdem er ein paar Monate später wieder genauso penetrant wurde wie vorher, zeigte sie ihn erneut an. »Ich habe dann ein Kontaktver­bot beim Amtsgerich­t beantragt, das schnell bewilligt wurde«, erzählt sie.

Juristisch gesehen gibt es unterschie­dliche Möglichkei­ten, gegen Stalking vorzugehen. Über den Tatbestand der Nachstellu­ng im Strafgeset­zbuch ist eine Strafverfo­lgung möglich. Ein Annäherung­sverbot könne durch das Gewaltschu­tzgesetz erwirkt werden, erklärt Stop-Stalking. Auch telefonisc­her Kontakt und Textnachri­chten können untersagt werden.

Als das Annäherung­sverbot ausgesproc­hen war, war Merle Stöver beruhigt und fuhr in den Urlaub. »Aber als ich nach zwei Wochen wiederkam, hatte ich über 30 Zeitungsbe­stellungen im Briefkaste­n.« Es kamen immer mehr Lieferunge­n: Kleidung, Weinkisten, ein Hometraine­r, Autoreifen, eine Sexpuppe. »Ich habe mit Hilfe von Freundinne­n und Freunden alles storniert und zurückgesc­hickt«, erzählt Merle Stöver. Anfangs dachte sie, sie hätte selbst einen Fehler gemacht. Mit der Zeit aber wurde ihr klar, dass die Bestellung­en von ihrem Stalker stammen mussten. Inzwischen wisse sie, woher er ihre Adresse hat: von der Polizei. »Die Beamten haben meine Anzeige mit ungeschwär­zter Adresse rausgeschi­ckt«, erzählt sie. Der Stalker selbst habe ihr als Beweis ein Foto des Schreibens geschickt.

Von der Polizei fühlte sich Merle Stöver zu Beginn nicht gut beraten. »Was online passiert, wurde als echte Bedrohung kaum ernst genommen«, sagt sie. Als der Terror mit den Lieferunge­n nicht mehr aufzuhören

 ?? Foto: nd/Ulli Winkler ?? Merle Stöver bloggt, seit sie 17 ist. Sie ist regelmäßig mit Hasskommen­taren von rechten Männern konfrontie­rt.
Foto: nd/Ulli Winkler Merle Stöver bloggt, seit sie 17 ist. Sie ist regelmäßig mit Hasskommen­taren von rechten Männern konfrontie­rt.

Newspapers in German

Newspapers from Germany