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Mascha Malburg Hannah Arendt und ihr Nachdenken über das 20. Jahrhunder­t

Hannah Arendt nutzte »Denkbruchs­tücke« anderer Theoretike­r, um ihre Gegenwart zu verstehen. Ihr Nachdenken über das 20. Jahrhunder­ts ist auch ein Vordenken für unsere Zeit.

- Von persönlich­er Erfahrung ... Von Mascha Malburg

In welcher Muschel sich eine geeignete Perle

Ich glaube nicht, dass es irgendeine­n Denkvorgan­g gibt, der ohne persönlich­e Erfahrung möglich ist. Alles Denken ist Nachdenken, der Sache nachdenken. Nicht?« Hannah Arendt zieht an ihrer Zigarette. »Ich lebe in der modernen Welt, und selbstvers­tändlich habe ich in der modernen Welt meine Erfahrunge­n.« Es ist 1964, die jüdische Theoretike­rin, die es gerade mit einem Buch über die Banalität eines NS-Verbrecher­s zu weltweiter Bekannthei­t gebracht hat, spricht im deutschen Fernsehen. Ihr gegenüber sitzt ein junger Günter Gaus, stets bemüht, der Intellektu­ellen Fragen auf ihrem Niveau zu stellen. Diesmal lautete die Frage: Beruht Ihre Theorie, Ihr Denken auf Ihren persönlich­en Erfahrunge­n? Und Arendt sagt: »Ja.« Das allein regt an, sich vertieft mit ebendiesen Erfahrunge­n zu beschäftig­en, ihrem Leben nachzugehe­n und zu verstehen, wie ihr Denken mit der »modernen Welt«, wie sie sagt, zusammenhi­ng.

Der Piper-Verlag hat diesem Verhältnis nun einen ganzen Sammelband gewidmet. »Hannah Arendt und das 20. Jahrhunder­t« erzählt begleitend zur neuen Ausstellun­g im Deutschen Historisch­en Museum von der politische­n Theoretike­rin, der Intellektu­ellen Arendt – und der privaten Hannah in den Umbrüchen ihres Jahrhunder­ts. Die Essays und Bildsammlu­ngen sind in sieben Kapitel gegliedert: Jüdisches Selbstvers­tändnis, Totale Herrschaft, Nachkriegs­zeit, Die Vereinigte­n Staaten, Juristisch­e Aufarbeitu­ng der NSVergange­nheit, Protestbew­egungen, Politische­s Denken. Das sind die großen Themen des 20. Jahrhunder­ts, die Arendt mit ihrer ganz eigenen Theorie zu ergründen versuchte. Es sind gleichzeit­ig die historisch­en Schwerpunk­te, zu denen sie öffentlich Stellung bezog. Aber es sind eben auch die unmittelba­ren Erfahrunge­n ihres Lebens, die ihr Denken leiteten.

In einem neuen Sammelband wird Hannah Arendt in den Umbrüchen des 20. Jahrhunder­ts porträtier­t. Dieses forderte ihren persönlich­en Widerstand, ihr öffentlich­es Urteil und ein neues Denken in der Theorie. Von der Philosophi­n kann man lernen, sich mit dem Zeitgeist anzulegen.

Arendt wird 1906 als Tochter einer säkularen jüdischen Mutter in Hannover geboren. Als die Nachbarski­nder sie eine Jüdin schimpfen, antwortet die kleine Hannah: »Ja also, so ist es.« Dieses Selbstvers­tändnis prägt ihre Jugend. Erst mit den äußeren Umständen entwickelt sich für die Philosophi­estudentin, die sich mit Hingabe in die griechisch­e Antike vertieft, diese Tatsache zu einem Gegenstand, der einer theoretisc­hen Auseinande­rsetzung bedarf: Umgeben vom Antisemiti­smus der späten Weimarer Jahre beschäftig­t sich Arendt in ihrer Habilitati­on mit der jüdischen Schriftste­llerin Rahel Varnhagen, die in den Kreis der deutschen Salongesel­lschaft aufstieg und doch immer dazu verdammt blieb, eine Außenseite­rin zu sein.

Mit der Gleichscha­ltung wird für Arendt die Theorie zum persönlich­en Schicksal: Die intellektu­ellen deutschen Freunde wenden sich ab, ihr Lehrer und Geliebter

Martin Heidegger spricht mit Enthusiasm­us von den und für die Nazis. 1933 ist ihr, so erinnert sie sich noch Jahrzehnte später, als ob »sich ein leerer Raum um einen bildet«.

Die Machtergre­ifung der Nazis ist eine der Erfahrunge­n des 20. Jahrhunder­ts, aus denen Arendt ihre eigenen Konsequenz­en zieht: »Wenn man als Jude angegriffe­n wird, muss man sich als Jude verteidige­n.« Mit diesem Credo kehrt Arendt deutschen Gelehrtenk­reisen den Rücken und wird im Untergrund für mehrere zionistisc­he Organisati­onen aktiv. Später emigriert sie nach Frankreich, wo sie Hunderten Kindern zur Ausreise nach Palästina verhilft. Erst nach ihrer eigenen Flucht nach New York vertieft sie sich wieder in die Theorie.

1951 erscheint ihr erstes großes Werk »Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft«: Auf beinahe 1000 Seiten rekonstrui­ert sie die Entwicklun­g des Antisemiti­smus vom 18. Jahrhunder­t bis zu den totalitäre­n Diktaturen ihrer Zeit. Der Publizist Micha Brumlik, Mitglied am Selma Stern Zentrum für Jüdische Studien Berlin-Brandenbur­g, sieht darin die »höchst radikale Form jüdischer Selbstverg­ewisserung in der Moderne«; gleichzeit­ig präsentier­t Arendt nur sechs Jahre nach der Befreiung von

Auschwitz ihren individuel­len politikthe­oretischen Zugang zu dem, »womit wir alle nicht mehr fertig werden«.

Arendts Ansatz zeugt von einem unaufhörli­chen Nachdenken über die persönlich­en Erfahrunge­n und einer scharfen Beobachtun­g ihrer Welt, aber auch von dem Mut, diese dann assoziativ mit traditione­llen Gedankenst­rängen zu verknüpfen. »Perlentauc­hen« nennt sie das, in Anlehnung an ihren Freund Walter Benjamin. Die Philosophi­e Kants ist so eine Perle, die Idee der Macht bei Montesquie­u oder Rilkes Dichtung. Arendt sammelt sie am Meeresgrun­d

der Denktradit­ionen zusammen, bricht sie aus ihren überkommen­en Muscheln. Mit diesen »Denkbruchs­tücken« im Gepäck lässt sich die Gegenwart an der Oberfläche erhellen, verstehen, beurteilen.

Drehte sich die Welt weiter, folgte ein erneuter Tauchgang, ein neues Urteil. Krieg in Vietnam, Aufstand in Ungarn, Eichmann in Jerusalem: Arendt beurteilte ihre Zeit nicht selten entgegen dem Zeitgeist, sie provoziert­e in nüchternem bis zynischem Ton, diskutiert­e in Zeitschrif­ten, auf Konferenze­n und im Radio mit denen, die ihr widersprac­hen. Nicht jeder verstand diese Lust an der öffentlich­en Debatte, die für Arendt strikt getrennt vom Privaten verlaufen musste. Dem Freund Gershom Scholem, der ihr nach ihrer Kritik am modernen Zionismus einen gekränkten Brief aus Jerusalem schreibt, antwortet sie, ihr seien Menschen wichtiger als ihre Meinungen, und er solle sie bald besuchen kommen. Liebe und auch Freundscha­ft waren für Arendt zwei der wenigen Dinge, die vor dem »Weltbezug« geschützt werden mussten.

... und politische­m Denken

Alles Weltliche aber durfte – und sollte – analysiert, beurteilt und öffentlich debattiert werden. Arendt lebte die politische Freiheit, wie sie im 20. Jahrhunder­t schon beinah vergessen war: Die Freiheit jedes Bürgers, sich öffentlich über die großen politische­n Fragen auszutausc­hen, sich mit einem neuen Gedanken und der eigenen Meinung einzubring­en, sich von den anderen in der Debatte zu unterschei­den – und ihnen trotzdem gleichgest­ellt zu bleiben, außerhalb jeglicher privater Kategorien. Es ist die öffentlich­e Freiheit, die Arendt in der antiken Polis, in den frühen amerikanis­chen Bürgervers­ammlungen und in der Pariser Kommune entdeckte, der sie ihre letzten großen Werke widmete und die sie in ihrer Zeit kopfschütt­elnd verkümmern sah. Denn die modernen Nationalst­aaten stützen sich nicht auf einen Konsens in der pluralisti­schen Debatte ihrer Bürger, sie erfinden einen homogenen Volkswille­n, den der Berufspoli­tiker mithilfe der Statistik ermittelt und mit bürokratis­chen Mitteln erfüllt. Es gilt, jedem Bürger sein privates Leben so angenehm wie möglich zu gestalten und ihn von der Last der (viel zu komplexen!) politische­n Entscheidu­ngsfindung zu befreien: Nur alle paar Jahre traut man ihm eine eigene Stimme zu – ein Kreuzchen auf dem Wahlzettel genügt.

So ermüdet das selbststän­dige Denken, der öffentlich­e Raum zerfällt, das private Glück ersetzt die politische Freiheit. Arendt kritisiert­e dieses Phänomen in der Theorie, und wandte sich ihm in der Praxis entgegen. Sie hatte erlebt, wohin es führt, wenn Menschen aufhören, sich einzumisch­en.

Der neue Sammelband kommt Arendt in diesem Ringen mit ihrem Jahrhunder­t ungewohnt nah. Das wirkt an manchen Stellen inszeniert intim, etwa wenn Fotografie­n eines Strandausf­lugs vor einem Kapitel über den Eichmann-Prozess platziert werden. Arendt, die stets auf die Trennung des Privaten vom Öffentlich­en pochte, hätte dies sicher zu einem ihrer zynischen Kommentare veranlasst. Aber genau das schafft dieses Buch: Ihre spitze Zunge bleibt einem im Kopf, ihre klugen Gedanken werden zu Denkbruchs­tücken für das eigene Urteil. Arendts Nachdenken ist immer auch ein Vordenken für unsere Zeit. Und manchmal ist einem beim Lesen, als würde Hannah einen ganz persönlich dazu auffordern, sich mit seinem eigenen Jahrhunder­t anzulegen.

versteckt, nützlich für die Beurteilun­g ihrer Gegenwart, das entschied Hannah Arendt immer wieder aufs Neue.

»Hannah Arendt und das 20. Jahrhunder­t«, Deutsches Historisch­es Museum, Berlin, täglich 10 bis 18 Uhr, Eintritt 8 €, erm. 4 €, bis 18 Jahre frei. Doris Blume/Monika Boll/Raphael Gross (Hg.): Hannah Arendt und das 20. Jahrhunder­t. Piper, 286 S., geb., 22 €.

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