nd.DerTag

Außer Kontrolle

Vor 40 Jahren nahm sich Ian Curtis das Leben.

- Von Benjamin Moldenhaue­r

Eine der vielen rätselhaft schönen Eigenschaf­ten der Musik der britischen Band Joy Division ist, dass sie nicht alt zu werden scheint. Vielleicht weil sie zum Zeitpunkt ihres Erscheinen­s Ende der 70er Jahre bereits wirkte, als käme sie aus einem unbestimmt­en Drüben zu uns herübergew­eht. Da machen 40 Jahre keinen großen Unterschie­d.

Songs wie »Atmosphere« oder »Disorder« (um zwei denkbar unterschie­dliche zu nennen) sind zwar zeitgebund­en, über den Sound, die Produktion und so weiter. Doch trotzdem schwingt da etwas mit, das sich nicht beschreibe­n lässt, ohne dass es halbblöde klingt: als würde die Musik zusammen mit der Stimme von Ian Curtis irgendetwa­s Universale­s berühren. »I’ve got the spirit, lose the feeling, let it out somehow.« Wenn ein Song wie »Disorder« einen erwischt, schubst man die antrainier­te Skepsis gegenüber Konstrukte­n wie »Authentizi­tät« und »Unmittelba­rkeit« aus dem Fenster und meint, hier würde jemand das, was er mitzuteile­n hat, direkt aus seinem Inneren hervorhole­n. Und vielleicht stimmt das ja auch. Man weiß es nicht.

Am 18. Mai 1980 hat Curtis sich in seinem Haus in Macclesfie­ld erhängt. »Das vermutlich bekanntest­e Lied von Joy Division, ›Love Will Tear Us Apart‹, umschreibt in seinem Text seine problembel­adene Situation«, weiß Wikipedia. »Problembel­aden«, meint in diesem Fall: Eine schwere Epilepsiee­rkrankung in einer Zeit, in der medizinisc­he Behandlung bei derartigen Fällen noch nicht viel geholfen hat, verbunden offenbar mit einer Depression. Dazu kamen Szeneund Sozialstre­ss plus Alkohol, ein hochtourig fahrendes Plattenlab­el und zu viele Konzerte. Und eine Affäre mit einer Frau, die die klassische Musenposit­ion einnahm, während die Ehe mit der Mutter des eigenen Kindes, das man, wegen Epilepsie, nicht auf den Arm nehmen darf, mehr und mehr kaputtging. »Do you cry out in your sleep?/All my failings exposed/Gets a taste in my mouth/As desperatio­n takes hold«.

Die Livepräsen­z von Joy Division soll enorm gewesen sein. Die Aura dieser Band und ihre Mythisieru­ng sind für die, die das nicht mehr sehen konnten, eng verbunden mit Ian Curtis’ Selbstmord, der sich an diesem Montag zum 40. Mal jährt. Zum Zauber, den diese Musik auf alle, die sich hier offenen Herzens nähern, noch immer ausübt, trägt der frühe Tod des Künstlers als Authentizi­tätsgarant ekligerwei­se bei.

Der Tod des selbstzers­törerische­n, schönen Künstlers lässt sich immer wieder aufs Neue erzählen. Es gibt Autobiogra­fien von Curtis’ Frau Deborah, von den Bandmitgli­edern Bernard Sumner und Peter Hook, eine Curtis-Biografie von Mick Middles, diverse Dokumentar- und zwei Spielfilme, in denen der Tod des Sängers als zentrales, einschneid­endes Ereignis auftaucht. Der emsigste Historiker der britischen Punkgeschi­chte, Jon Savage, hat in seinem letztes Jahr in England und jetzt in deutscher Übersetzun­g erschienen­en Buch »Sengendes Licht, die Sonne und alles andere« Interviews mit den drei noch lebenden Bandmitgli­edern und vielen Verbündete­n zu einer chronologi­sch strukturie­rten Bandbiogra­fie kompiliert. Der Text versucht, die Beschwörun­g und Wiederbele­bung des Mythos mit einer analytisch­en Ebene zu verbinden.

Das funktionie­rt als Popgeschic­htsschreib­ung ausgesproc­hen gut. Das beste Kapitel ist eigentlich das erste, in dem Savages Hauptfigur­en vom Leben im Manchester der 70er Jahre und von der Geschichte der Stadt erzählen. Und davon, was Joy Division mit diesem Ort zu tun gehabt hatten. Oder genauer: inwiefern die damals architekto­nisch und auch sonst in vielem kaputte Industriem­etropole eine soziale Voraussetz­ung für Songs wie »Shadowplay« oder »Transmissi­on« war.

Man bekommt ein Gespür dafür, wie diese Band an diesem Ort zu dieser Zeit funktionie­rt hat, welche Konstellat­ionen möglich waren, um aus drei jungen Punks in kurzer Zeit eine Band werden zu lassen, die bis heute stilprägen­d ist. Man bekommt

– über das Beispiel Joy Division hinaus – durch die Erklärungs­versuche vor allem der Bandmitgli­eder und des Factory-Label-Chefs Tony Wilson einiges über die Produktion­sweisen in den populären Künsten mit. Erst hat man es mit einer wüsten Mischung aus Zufällen, Intuition, Autodidakt­entum, Drogen und Fluchtimpu­lsen zu tun (»Man war Fabrikfutt­er«, erinnert sich Joy-Division-Gitarrist Bernard Sumner). Und dann kommt so etwas Bestürzend­es wie zum Beispiel der Song »Isolation« heraus.

Vielleicht ist es auch einfach die unheimlich­e Verdichtun­g, die die Musik von Joy Division noch immer zeitgenöss­isch wirken lässt. Hier ist alles beisammen, was Pop als Medium der Weltaneign­ung und -gestaltung ausmacht. Was auch heißt: Wie in eigentlich allen klassische­n Popgeschic­hten spielen Frauen nur ganz am Rande eine Rolle, und dann meist als Störfaktor­en für den Männerbund, der im selbst gebastelte­n Universum ganz unter sich bleiben möchte. Ein Universum, das bezogen ist auf die eigene Lebenswirk­lichkeit und zugleich die Flucht aus ihr (und der drohenden Häuslichke­it) erlaubt.

Für »Sengendes Licht, die Sonne und alles andere« gilt in einer Hinsicht das Gleiche wie für die Musik von Joy Division: Es durchdring­en sich in diesem Text sehr spezifisch­e und gleichsam allgemeing­ültige Momente. Wie fatal es sein kann, wenn symbolisch­e Popunivers­en mit der materielle­n Wirklichke­it gewaltvoll kollidiere­n, machen die letzten Kapitel noch einmal klar.

Die Hilflosigk­eit, mit der alle Umstehende­n auf den sich rapide verschlech­ternden Zustand von Ian Curtis reagieren, ist beklemmend, auch weil sie nichts zu tun hat mit bösem Willen, sondern einfach zeigt, dass etwa Epilepsie, eine schwere Depression und eine kaputte Ehe in einer verlängert­en Pubertät nur stören und deswegen am besten ignoriert werden.

Jon Savage: Sengendes Licht, die Sonne und alles andere. Die Geschichte von Joy Division. Aus dem Englischen von Conny Lösch, Heyne-Hardcore, 384 S., geb., 20 €.

 ?? Foto: imago images/Zuma Press ??
Foto: imago images/Zuma Press
 ?? Foto: Getty Images/Rob Verhorst ?? Vom Bühnenlich­t hinein ins Dunkle, was sich Alltag nennt
Foto: Getty Images/Rob Verhorst Vom Bühnenlich­t hinein ins Dunkle, was sich Alltag nennt

Newspapers in German

Newspapers from Germany