Mitten im Impfstoff-Kampf
Bei der WHO-Jahresversammlung geht es mehr um Machtgerangel als um Gesundheit
Berlin. Es ist klar: Aus medizinischer Sicht wird der Kampf gegen das neuartige Coronavirus erst dann gewonnen sein, wenn wirksame Impfstoffe in ausreichender Menge zur Verfügung stehen. Das wird allerdings noch Monate dauern. Zwar arbeiten Wissenschaftler und Pharmafirmen weltweit an rund 100 Projekten, doch nur wenige sind bereits in der langwierigen Erprobungsphase.
Dies alles zu koordinieren, ist Aufgabe der Weltgesundheitsorganisation (WHO), deren 194 Mitgliedsstaaten am Montag und Dienstag erstmals seit Ausbruch der Corona-Pandemie zur Jahresversammlung zusammenkommen, online versteht sich. Eigentlich müsste die chronisch unterfinanzierte WHO aufgewertet werden, doch das Gegenteil ist der Fall: USPräsident Donald Trump zieht die Genfer UNOrganisation in seinen Konflikt mit China hinein und hat alle Zahlungen auf Eis gelegt, da sie angeblich zu Peking-nah arbeite.
Gleichzeitig versucht die WHO, in Sachen Impfstoffen die Profitinteressen der Pharmawelt und die Ansprüche der öffentlichen Gesundheit unter einen Hut zu bekommen. Einige reiche Staaten haben Konzernen viel Geld für das Bereithalten von Produktionskapazitäten gezahlt, die womöglich nie gebraucht werden. Gleichzeitig wollen vor allem die USA Pharmafirmen dazu bringen, sie als am stärksten betroffenes Land vorrangig zu beliefern. Die WHO dagegen hat vor allem arme Länder im Blick, die, wenn es irgendwann um die Verteilung geht, nicht leer ausgehen dürfen.
Das Gerangel in Sachen Corona hat zudem negative Folgen bei bekannten Infektionskrankheiten, die jährlich in Entwicklungsländern Millionen Tote fordern. Experten warnen, dass Behandlung und Impfungen etwa gegen Masern, Tuberkurlose und Aids ins Hintertreffen geraten. 37 Staaten mussten laut WHO Impfkampagnen einstellen.
Weltweit suchen Wissenschaftler fieberhaft nach Impstoffen gegen Sars-CoV-2. Die Debatte um eine patentfreie Herstellung und die weltweite Versorgung beginnt erst.
Das globale Wettrennen um den ersten Impfstoff gegen das neuartige Coronavirus nimmt Fahrt auf, noch bevor auch nur für einen Kandidaten alle Tests abgeschlossen sind. Kurzzeitig sah es dabei so aus, als hätten sich die USA das Recht der größten Vorbestellung auf einen Impfstoffkandidaten des französischen Pharmariesen Sanofi gesichert. Dem hat der Hersteller inzwischen aber widersprochen und versichert, alle Regionen der Welt sollen ein solches Mittel zur gleichen Zeit bekommen.
Dennoch ist weiterhin offen, ob künftige Impfstoffe wirklich allen Menschen zugänglich sein wird. Vor allem die USA in der Person ihres Präsidenten Donald Trump beanspruchen Vorrechte und wollen diese auch sichern. Sanofi hatte zusammen mit dem britischen Unternehmen GlaxoSmithKline eine Impfstoffentwicklung bis 2021 angestrebt. Beide Konzerne erhalten finanzielle Unterstützung von der Behörde für biomedizinische Forschung und Entwicklung (Barda) des US-Gesundheitsministeriums. Gleichzeitig befindet sich Sanofi in Gesprächen mit der EU sowie den Regierungen in Paris und Berlin, um die regionale Impfstoffentwicklung zu beschleunigen.
Das weist darauf hin, dass den Herstellern der seuchenpolitische Druck, dem sich Regierungen ausgesetzt sehen, mehrfach von Nutzen ist. Sie stoßen auf eine größere Bereitschaft, Zulassungskriterien aufzuweichen. Zudem können sie vermutlich bessere Preise durchsetzen als sonst bei Impfstoffen. Für diejenigen, die bereits Produktionskapazitäten für noch nicht zugelassene Vakzine aufbauen, dürfte sich selbst ein Fehlschlag lohnen, denn er ginge auf Kosten der jeweils bestellenden Staaten. Geschehen könnte letzteres bei dem Schweizer Hersteller Lonza, der Produktionsstätten auf mehreren Kontinenten hat und mit dem US-Unternehmen Moderna einen Vertrag über eine Milliarde Impfdosen abgeschlossen hat. Moderna hat bereits 400 Millionen Dollar von der Barda erhalten. Lonza möchte die Produktion schon im Juli beginnen und könnte bei erfolgloser Zulassung zur Vernichtung einer ganzen Charge gezwungen sein.
Durch derartiges Vorgehen geraten unter anderem die EU-Staaten unter Druck. Anfang Mai hatte die Europäische Kommission mit einer internationalen Geberkonferenz der Impfstoffforschung Auftrieb verleihen wollen. Dabei wurden insgesamt sieben Milliarden Dollar eingeworben – der weitaus größte Batzen aus Frankreich, aber auch Gelder aus Kanada, Saudi-Arabien, Großbritannien, Australien, Japan und China eingeworben. Die Kooperation mit China könnte von Nutzen sein, denn unter den zehn vielversprechendsten Impfstoffkandidaten der weltweit laufenden mehr als 100 Projekte ist die EU nur an Dreien beteiligt, chinesische Firmen und Forschungsinstitute an weiteren fünf.
Die Finanzierung durch Industriestaaten sichert noch lange nicht, dass die Impfung auch in ärmeren Ländern zugänglich sein wird. Deshalb haben vor der verkürzten WHO-Jahresversammlung an diesem Montag und Dienstag, die online stattfindet, 140 Regierungspolitiker und Experten
aus aller Welt eine kostenlose Behandlung und Impfung gegen das Coronavirus für alle Menschen verlangt. In der am vergangenen Donnerstag vom Hilfsprogramm UN-Aids veröffentlichten Erklärung wurde ebenfalls gefordert, dass Medikamente in großen Mengen und ohne Patentschutz hergestellt werden sollten.
Patente auch auf neue Impfstoffe sichern den Inhabern hohe Erlöse, und nicht alle Länder können es sich leisten, Lizenzen zu erwerben. In bestimmten gesundheitlichen Notlagen ist es manchen Staaten jedoch erlaubt, Zwangslizenzen für eine Produktion für den eigenen Bedarf zu erteilen. Diese Möglichkeit brachte jetzt der CDU-Europaabgeordnete Peter Liese ins Gespräch, allerdings für den Fall, dass die EU bei der Impstoffentwicklung ausgebootet würde. Dann könnte auch ohne Genehmigung des
Patentinhabers produziert werden, dieser würde durch eine staatlich festgelegte Gebühr entschädigt.
Ein weiterer Anwärter darauf, einen Corona-Impfstoff auf eigenes Risiko herzustellen, meldete sich aus Indien zu Wort. Das Serum Institute of India, heute der größte Impfstoffhersteller der Welt, kündigte den Produktionsbeginn noch für diesen Monat an. Zunächst sollen 40 Millionen Dosen eines an der Universität Oxford entwickelten Impfstoffes hergestellt werden, den die Oxford Vaccine Group noch bis Ende September abschließend testen soll. Dort läuft im Moment eine Studie mit insgesamt 1100 Freiwilligen. Der Geschäftsführer des Serum Institute of India, Adar Poonawalla, kündigte an, den möglichen Impfstoff nicht patentieren zu lassen. Es werde darüber nachgedacht, eine Dosis für zwölf Euro zu verkaufen.
Lonza möchte die Produktion schon im Juli beginnen und könnte bei erfolgloser Zulassung zur Vernichtung einer ganzen Charge gezwungen sein.