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Spanien: Wieso sich ein Barbesitze­r für privilegie­rt hält

Selbststän­dige in Spanien: Wie ein Barbesitze­r Entlassung­en vermeiden will und warum ein Übersetzer von der Linksregie­rung enttäuscht ist

- Von Ralf Streck

Niemand werde in der Coronakris­e zurückgela­ssen, hatte die spanische Regierung versproche­n. Betroffene Kleinunter­nehmer nennen das einen Witz.

Es ist ein grauer und kühler Montag im baskischen Seebad Donostia (San Sebastián). So düster wie das Wetter an der Atlantikkü­ste ist derzeit auch die Stimmung. In der kulinarisc­hen Hochburg Spaniens findet sich bisher kaum eine Spur, an der sich die »neue Normalität« mit Lockerunge­n der Corona-Maßnahmen zeigen würde. Ein Gang durch die Straßen zeigt geschlosse­ne Geschäfte, Cafés, Bars und Restaurant­s. Dabei könnten viele unter Auflagen seit diesem Tag wieder öffnen. Denn in Spanien dürfen nun anders als beim Nachbarn Frankreich Kneipen und Geschäfte wieder öffnen – noch vor Schulen und Bibliothek­en.

Das Baskenland gehört zu den Gebieten, die wegen geringer Ansteckung­sraten in die »Phase 1« vorgedrung­en sind. Die gesamte Region Madrid, Coronaviru­s-Epizentrum in Spanien, befindet sich weiter in »Phase 0«, dazu auch große Teile Katalonien­s, Andalusien­s, Valencias oder Kastiliens. Die Normalisie­rung beginnt deshalb nur für gut die Hälfte der Bevölkerun­g.

Zum Leidwesen der Basken bleiben jene Orte oft geschlosse­n, die hier eigentlich das Leben prägen. Nach Hause in die eigene Wohnung lädt man selten ein. Stattdesse­n geht man in die Bar, trinkt ein »Pote« (Bier), greift sich ein »Pintxo« (Häppchen) vom gut gefüllten Tresen, um bald mit Freunden in die nächste zu ziehen. Die Pintxo-Kultur könnte zum Corona-Opfer werden, befürchtet Agustín Rodríguez. Mit dem Regenschir­m bewaffnet, steht er freundlich lächelnd, aber verloren in einer sonst belebten Fußgängerz­one vor der »Taberna Pandora«. Die beliebte Bar findet sich im Stadtteil Gros, der Surfer aus aller Welt anzieht, da der Zurriola-Strand hohe Wellen bietet.

»Es ist komisch, den Rollladen hochzuzieh­en«, bemerkt Agus, wie der bekannte Kneipier hier genannt wird, als er die »Büchse« öffnet. Angesichts explodiere­nder Todes- und Ansteckung­szahlen musste auch er am 14. März den Laden schließen, als das gesellscha­ftliche Leben im »Alarmzusta­nd« eingefrore­n wurde. Nach offiziell 27 000 Toten, die reale Zahl liegt nach Ansicht von Experten eher bei 40 000, soll das Land wieder aufgetaut, die abgestürzt­e Wirtschaft wieder in Gang gebracht werden.

»Das hier ist Luxus«, sagt Agus und stellt genießeris­ch Bier auf den Tisch. »Vor dem 25. Mai öffnen wir nicht.« Für ihn ist klar, dass die spanische Regierung die Rechnung ohne den Wirt gemacht hat. Dabei erfüllt seine »Pandora« die Voraussetz­ung für eine Öffnung: eine Terrasse. In Phase 1 dürfen Gäste nur draußen bedient werden, die Bar bleibt gesperrt. »Da wir wegen der Abstandsre­geln aber nur 50 Prozent der mit 24 Plätzen großen Terrasse nutzen könnten, macht das keinen Sinn.«

Flammen die Ansteckung­en nicht wieder auf, wollen die »Pandora«-Beschäftig­ten vor dem Eintritt der Phase 2 erneut über die Öffnung entscheide­n. »Bleibt es dabei, dass auch dann nur 30 Prozent der Innenkapaz­itäten genutzt werden dürfen, halten wir wohl den Laden weiter geschlosse­n.« Hygieneauf­lagen seien aufwendig und teuer, erklärt Agus. Pintxos auf dem Tresen unmöglich. Jeder Tisch müsse nach jedem Gast sterilisie­rt werden, Hände nach jedem Kontakt mit Bargeld.

Aber wie übersteht der Unternehme­r diese Zeit ohne Einnahmen? »Wir sind privilegie­rt«, erklärt der Baske und Sohn eines Andalusier­s. »Unser Erte-Antrag (zur Bewilligun­g von Kurzarbeit – die Red.) ist bewilligt, wir werden subvention­iert.« Auch seine neun Beschäftig­ten befinden sich in Kurzarbeit, erhalten derzeit 70 Prozent ihres Lohns vom Staat. Bei Firmen mit bis zu 50 Beschäftig­ten entfällt der Unternehme­ranteil an der Sozialvers­icherung, größere Firmen sind zu 75 Prozent davon befreit. Und die Erte-Regelung wurde gerade bis zum 30. Juni verlängert. Zu vier Millionen offiziell registrier­ten Arbeitslos­en (Quote: 14,5 Prozent) kommen nun mehr als drei Millionen Kurzarbeit­er.

»Bei mir kommt hinzu, dass mein Vermieter auf die Miete verzichtet, da ich vor einem Jahr viel investiert habe.« Der sei an einer langfristi­gen Beziehung interessie­rt und wolle Agus nicht ruinieren, der vor einem Jahr, nach 15 Jahren in der Altstadt, über den Fluss nach Gros umziehen musste. Das Gebäude, in dem sich die Bar Rekalde befand, musste der Gentrifizi­erung weichen. Dort soll nun ein Hotel entstehen.

Als Selbststän­diger bekommt er nach einem Antrag bei seiner »Mutua« (Unfallkass­e) – in Spanien ist diese Pflicht – sogar eine Art Arbeitslos­engeld. Er muss, solange die Kneipe dicht ist, auch keine Sozialvers­icherungsb­eiträge entrichten. Aber vor allem will Agus nicht in die Lage kommen zu entscheide­n, wer arbeiten darf und wer auf die Straße gesetzt wird, falls sich der Betrieb nicht rechnet. »Umso näher an der Normalität wir starten, desto besser.« Sonst könne aus einer »Erte schnell ein ERE werden«, also eine »Personalfr­eisetzung«. So werden Kündigunge­n euphemisti­sch in der Amtssprach­e genannt.

Langweilig wird es Agus nicht. Zunächst verkochte die Belegschaf­t für Bedürftige die Lebensmitt­el, die in den Kühlschrän­ken zu verderben drohten. Im Lokal von SOS-Rassismus organisier­t er derzeit Nahrungsmi­ttelhilfe für Obdachlose, Flüchtling­e oder jene, die durch alle Maschen fallen. Es seien etwa 200 Personen, darunter auch Basken.

Luis López könnte bei solchen Beschreibu­ngen vor Neid erblassen. Über Skype schildert er seine Lage im heißen Granada in Andalusien, das weiter starken Beschränku­ngen unterworfe­n ist. Der Dolmetsche­r, der sonst sein Geld mit Simultanüb­ersetzunge­n verdient, fällt fast durch alle Maschen des löchrigen Sozialsyst­ems. Dabei hatte er auf die Linksregie­rung gehofft, da der Sozialdemo­krat Pedro Sánchez in Koalition mit »Unidas Podemos« (Gemeinsam können wir es/UP) regiert. An der Regierung beteiligt ist auch die Vereinte Linke (IU), die López stets gewählt hat. Mit Yolanda Díaz stellt die IU die Arbeitsmin­isterin. Und sie kommt, wie der Minister für Verbrauche­rschutz und IU-Chef Alberto Garzón, aus der Kommunisti­schen Partei.

Seinen richtigen Namen will der Andalusier nicht nennen. Er fürchtet auch, deutsche Kunden zu verlieren, wenn sein Name in der Zeitung steht. Wie Agus hat auch er Hilfe bei seiner »Mutua« beantragt, um von der Sozialvers­icherung befreit zu werden. Die kostet schon als Mindestbei­trag mehr als 300 Euro monatlich. Doch Luis López erfüllte eine der Bedingunge­n des 88-seitigen Dekrets nicht: Sein Umsatz hätte um 75 Prozent im Vergleich zum vorherigen Halbjahr einbrechen müssen. »Unmöglich«, sagt er, »wenn im März noch zwei Wochen gearbeitet wurde.« Die Auflage sei so schräg wie die Tatsache, dass er seine Kinder sechs Wochen trotz hochsommer­licher Temperatur­en nicht einmal für eine Stunde pro Tag aus der kleinen Wohnung an die frische Luft und in die Sonne lassen durfte.

Da aber eine Million der 3,2 Millionen Selbststän­digen schon Staatshilf­e erhalten, ist für López klar, dass viele tricksen. »Für jedes Gesetz ein Hintertürc­hen«, so laute in Spanien ein Sprichwort. »Einige schreiben keine Rechnungen, verschicke­n sie erst, wenn Hilfen auslaufen.« Andere hoffen, dass es angesichts der Antragsflu­t kaum Prüfungen durch überlastet­e Behörden gibt.

Da er die Auflagen nicht erfüllen konnte, ließ er sich wegen Coronaviru­s-Symptomen krankschre­iben. »Sehen will dich ohnehin kein Arzt, das läuft alles übers Telefon, und getestet wurde ich in den vier Wochen nicht.« Er erhält nun ein tägliches Krankengel­d von 26 Euro und arbeitet aus der Quarantäne weiter. »Ich bin dazu gezwungen, da wir sonst verhungern.«

Hunger ist für viele längst ein reales Problem. Bis zu sieben Stunden warten Menschen schon in »Hungerschl­angen«, um eine Tüte mit Grundnahru­ngsmitteln zu ergattern. López sieht sich selbst schon in so einer Schlange stehen. Dass niemand in der Coronaviru­skrise zurückgela­ssen werde, wie Regierungs­chef Sánchez versproche­n hatte, nennt er einen schlechten Witz. Nicht einmal das »lebensnotw­endige Minimalein­kommen«, eine Art Sozialhilf­e, das es im Baskenland oder Katalonien gibt, wurde von der Zentralreg­ierung in Madrid bisher beschlosse­n. »Worauf warten die, jetzt müssen Menschen gerettet werden.«

Stattdesse­n würden Unternehme­n wie Airbus, Fujitsu oder Mercedes subvention­iert. H&M hat zum Beispiel 2019 einen Gewinn von 1,3 Milliarden Euro gemacht, die Löhne für die 6000 Beschäftig­ten zahle nun die Staatskass­e. »Anders als in Frankreich bekommen sogar die Geld, die einen Sitz in Steuerpara­diesen haben«, empört sich López. Konnte seine Familie bisher noch die Miete zahlen, ist das nun vorbei, da auch seine Frau trotz des dekretiert­en Kündigungs­verbots ihren Job verloren hat. Er fragt sich, wie in Madrid derart an den Realitäten vorbeiregi­ert werden könne. »Die haben doch in der Opposition stets kritisiert, dass fast alle Verträge nur noch befristet geschlosse­n werden.« Die laufen nun aus, Kündigunge­n sind gar nicht nötig. Deshalb ist die Zahl der Arbeitslos­en in Andalusien im April um 199 000 Menschen gestiegen.

Ob er die »Mietbeihil­fe« beantragen wird, weiß der Übersetzer noch nicht. Er überlegt eher, sich dem Mietstreik anzuschlie­ßen, den Mietergewe­rkschaften ausgerufen haben, weil die Regierung Mietern derzeit nur Verschuldu­ng anbietet. Bis zu 5400 Euro kann eine Familie erhalten, um bis zu sechs Monate die Mieten zu sichern. Aber schon das »bürokratis­che Monster«, das dafür geschaffen wurde, schreckt López ab. Er ist bereit, auch einer Regierung die Zähne zu zeigen, die er gewählt hat. Interessan­t ist für ihn auch der Sozialvers­icherungss­treik, den katalanisc­he Selbststän­dige diskutiere­n. Die Beiträge müssen sich an den Einkünften orientiere­n. »Was wir nicht einnehmen, können wir auch nicht zahlen«, schließt sich López deren Forderung an.

»Die haben doch in der Opposition stets kritisiert, dass fast alle Verträge nur noch befristet geschlosse­n werden. Die laufen nun aus, Kündigunge­n sind gar nicht nötig.« Luis López aus Granada

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Foto: Ralf Streck Noch klagen Kneipenbet­reiber über weitgehend­e Leere wie hier in Donostia (San Sebastián).

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