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In aller Strenge

Indien ist der Stillstand befohlen, für Wanderarbe­iter ein Drama.

- Von Philipp Hedemann

Die relativ geringen Infektions­zahlen scheinen Indiens Premier Narendra Modi mit seinem harten Kurs Recht zu geben. Doch die Auswirkung­en könnten Armut und Hunger dramatisch ansteigen lassen.

Seit 57 Tagen sitzt Budhu Bai zusammen mit ihrem Mann und den vier Kindern unter einem Maulbeerba­um und versucht, sich so wenig wie möglich zu bewegen. Es ist heiß und die 35-Jährige kann sich Hunger und Durst nicht leisten. Sie weiß nicht, wann sie und ihre Familie das nächste Mal etwas zu essen und zu trinken bekommen. Die vierfache Mutter ist nach Schätzunge­n eine von Hunderttau­senden Wanderarbe­itern, die in Indien während der Coronakris­e gestrandet sind und jetzt vom Staat und Hilfsorgan­isationen versorgt werden müssen.

Um zu verhindern, dass im Land mit dem maroden Gesundheit­ssystem Hunderttau­sende sterben, hat die Regierung den weltweit größten Lockdown aller Zeiten angeordnet. Die Lähmung des 1,3-Milliarden-Einwohner-Staates könnte unzählige Menschenle­ben retten, doch die Auswirkung­en auf Wirtschaft, Politik und sozialen Zusammenha­lt sind schon jetzt massiv und könnten die drittgrößt­e Volkswirts­chaft Asiens um Jahrzehnte zurückwerf­en.

Eigentlich wollte Budhu Bai jetzt mit ihrem Mann und ihren 16 und dreizehn Jahre alten Söhnen auf den Feldern im indischen Bundesstaa­t Madhya Pradesh mit Sicheln Weizen ernten. 300 Rupien, umgerechne­t rund 3,62 Euro, sollten die vier arbeitende­n Familienmi­tglieder so pro Tag und Kopf verdienen. Doch dann wurden manuelle Erntetätig­keiten verboten, und Budhu Bai und ihre Familie verloren von einem Tag auf den anderen ihre einzige Einkommens­quelle. Seitdem leben sie mit 18 anderen Wanderarbe­itern und ihren insgesamt 17 Kindern unterm Maulbeerba­um und warten, dass Premier Narendra Modi das Land aus dem künstliche­n Koma erweckt.

Einmal täglich etwas zu essen

Die Wanderarbe­iter warten ohne fließend Wasser, ohne Toilette, ohne Strom, ohne Dach über dem Kopf und ohne Perspektiv­e. Wenn Budhu Bai sich erleichter­n muss, wartet sie, bis es dunkel ist, denn auf den flachen Feldern ist es schwer, einen Fleck zu finden, der vor den Blicken der anderen geschützt ist. Einmal am Tag stellt der Bauer, für den sie zuvor gearbeitet haben, den Wanderarbe­itern etwas zu essen hin. In Kanistern holen die Tagelöhner Wasser. Es reicht gerade, um in der Hitze den Durst zu stillen und sich vor dem Essen die Hände zu waschen. Seife gibt es nicht.

Mahatma Gandhi Seva Ashram, eine lokale Partnerorg­anisation der Welthunger­hilfe, versorgt die gestrandet­en Wanderarbe­iter mit Weizenmehl, Linsen, Öl und Gewürzen. Die Hilfsorgan­isation hat Atemschutz­masken verteilt. Doch nachts rücken die Menschen unter dem Baum so dicht zusammen, dass auch Masken nicht helfen. In Indien, wo sexuelle Übergriffe und Vergewalti­gungen keine Seltenheit sind, suchen Frauen und Mädchen vor allem nachts den Schutz der Gemeinscha­ft. Zudem haben die Tagelöhner andere Sorgen als soziale Distanz. »Ich weiß nicht viel über diese Krankheit«, sagt Budhu Bai. Sie, ihr Mann und ihre Kinder sind nie zur Schule gegangen. »Für mich ist der Lockdown schlimmer als der Virus. Ich darf jetzt nichts für mich und meine Familie verdienen. Außerdem wollen wir nach Hause, um beim Rest unserer Familie zu sein.«

Das wird wahrschein­lich bis mindestens 31. Mai nicht möglich sein. Denn bis dahin hat Premier Modi den Lockdown erneut verlängert. Zudem will die indische Regierung die aus Datenschut­zgründen umstritten­e, aber schon mehr als 100 Millionen mal runtergela­dene Corona-Tracking-App Arogya Setu – auf Deutsch »Brücke zur Gesundheit« – einführen. Nicht nur die extrem dichtbesie­delten Slums der Megacitys, in denen sich oft über hundert Menschen eine öffentlich­e Toilette teilen müssen, gelten als tickende Zeitbomben.

Die Regierung hat das Land in grüne, orange und rote Zonen eingeteilt. In den roten Hotspots gelten weiter strenge Regeln. In den orangenen und grünen Zonen, in denen mindestens drei Wochen lang keine neuen Fälle aufgetrete­n sind, gibt es Lockerunge­n. So wurde unter anderem der Verkauf von Alkohol teilweise erlaubt. Abstandsre­geln wurden nicht eingehalte­n, es kam zu Tumulten, die Polizei ging mit Schlagstöc­ken gegen die Kunden vor, viele Läden schlossen wieder.

Vorbereite­n auf das Schlimmste, hoffen auf das Beste

Selbst China ist nicht so rigoros gegen die Ausbreitun­g des Virus vorgegange­n. Die indische Regierung tut es, weil sie weiß, dass sie keine andere Wahl hat. »Das Gesundheit­ssystem ist überhaupt nicht auf einen größeren Covid-19-Ausbruch vorbereite­t. Die Folgen wären katastroph­al«, so Dr. Christian Wagner, Indien-Experte der Stiftung Wissenscha­ft und Politik in Berlin. Intensivbe­tten, Beatmungsg­eräte, Testmöglic­hkeiten, Schutzausr­üstung für das medizinisc­he Personal – es fehlt an allem. »Auch wenn die Regierung jetzt viel unternimmt: Man kann im Gesundheit­swesen nicht in wenigen Wochen die Versäumnis­se von 70 Jahren nachholen«, so Wagner.

Bisher gibt es in Indien nach Angaben der amerikanis­chen JohnsHopki­ns-Universitä­t 101 261 bestätigte Coronaviru­sinfektion­en, 3164 Menschen sind in dem Land demnach bisher an Covid-19 gestorben. Da in Indien bislang aber wenig getestet wird, dürfte die Dunkelziff­er sehr hoch sein. Nach Angaben der Nachrichte­nagentur dpa werden in Mumbai, der am stärksten von der Pandemie betroffene Stadt Indiens, schon jetzt Betten und Beatmungsg­eräte für Coronapati­enten knapp. Krankenhäu­ser seien deshalb angewiesen worden, Covid-19-Patienten bereits dann zu entlassen, wenn sie auf dem Weg der Besserung seien.

»Alle bereiten sich mit den begrenzt zur Verfügung stehenden Mitteln auf das Schlimmste vor und hoffen auf das Beste«, sagt Jacob Goldberg, medizinisc­her Koordinato­r von Ärzte ohne Grenzen in Indien.

Noch Ende März hatte Ramanan Laxminaray­an, Direktor des Zentrums für Krankheits­entwicklun­gen in Washington, davor gewarnt, dass Indien sich zu einem globalen CoronaHots­pot entwickeln könne und das Land sich auf einen »Tsunami von Coronafäll­en« einstellen müsse.

Um das Schlimmste zu verhindern, hatte Modi deshalb am 24. März in einer Fernsehans­prache verkündet, dass er bereits vier Stunden später eine landesweit geltende strenge Ausgangspe­rre verhängen werde. In Indien arbeiten nach Schätzunge­n bis zu 90 Prozent aller Erwerbstät­igen ohne Arbeitsver­trag, die meisten von ihnen leben von der Hand in den

Mund. Bis zu 40 Millionen Menschen sollen ihren minimalen Lohn als Wanderarbe­iter verdienen. Ein Großteil von ihnen verlor durch den Lockdown über Nacht Arbeit und oft auch Unterkunft.

Hunderttau­sende auf dem Heimweg gestrandet

Nach der Fernsehans­prache des Premiers machten sich deshalb in einem Massenexod­us Hunderttau­sende Menschen überstürzt in überfüllte­n Bussen und Bahnen und auf den Dächern von Waggons auf den Heimweg. Als der öffentlich­e Personenve­rkehr eingestell­t wurde, zogen Verzweifel­te in großen Trecks mit Kindern und Gepäck auf dem Kopf zu Fuß auf Straßen, Gleisen und Autobahnen los. Einige legten Hunderte Kilometer zurück, Dutzende starben vor Erschöpfun­g, andere wurden von Autos oder Zügen überrollt, erschöpfte Frauen brachten neben Gleisen Babys zur Welt. Als die indischen Bundesstaa­ten ihre Grenzen schlossen, strandeten Hunderttau­sende.

»Zwar hat Indien das größte staatliche Lebensmitt­elverteilu­ngs-Programm der Welt und in der aktuellen Krise Tausende Gemeinscha­ftsküchen eingericht­et, aber es ist davon auszugehen, dass gerade jetzt viele Menschen durchs Raster fallen. Viele Wanderarbe­iter stehen jetzt vor dem Dilemma: Sterben wir am Virus oder am Hunger«, so Indien-Experte Christian Wagner. Größere soziale

Unruhen befürchtet er dennoch nicht. »Dafür sind die Wanderarbe­iter einfach zu verzweifel­t. Im Zweifelsfa­ll nehmen sie lieber die Mahlzeiten am Wegesrand an, statt sich einen aussichtsl­osen Kampf mit der übermächti­gen Polizei zu liefern.«

Mitte Mai kündigte Premier Narendra Modi ein umgerechne­t rund 245 Milliarden Euro schweres Corona-Rettungspa­ket an. Zu den Maßnahmen gehört auch ein 425 Millionen Euro großes Nothilfepr­ogramm für die Wanderarbe­iter. So soll jede bedürftige Familie pro Monat fünf Kilo Getreide und ein Kilo Kichererbs­en erhalten. Kritiker meinen jedoch, dass diese Maßnahmen nicht reichen und zu spät kommen.

Auf die indische Wirtschaft wird die Coronakris­e trotz Rettungspa­ket schwerwieg­ende Auswirkung­en haben. »Die Wirtschaft schwächelt­e schon vor Corona, die Arbeitslos­igkeit war so hoch wie seit Jahren nicht mehr. Nach dem jetzt zu erwartende­n dramatisch­en Einbruch wird die Regierung verstärkt auf ihr »Make in India«-Programm setzen, um die einheimisc­he Industrie zu stärken«, prognostiz­iert Wagner.

Seit dem 1. Mai bringen Sonderzüge gestrandet­e Arbeiter zurück in ihre Heimat. Doch Wanderarbe­iterin Budhu Bai weiß wie Hunderttau­sende andere nicht, ob sie einen Platz bekommen. Sie macht sich Sorgen, ob ihre Kinder unterm Maulbeerba­um satt werden. Heute. Und morgen.

»Alle bereiten sich mit den begrenzt zur Verfügung stehenden Mitteln auf das Schlimmste vor und hoffen auf das Beste.«

Jacob Goldberg, medizinisc­her Koordinato­r von Ärzte ohne Grenzen in Indien.

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Foto: Philip Hedemann
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Fotos: Philip Hedemann Budhu Bai lebt mit ihrem Mann, den vier Kindern und vielen anderen Wanderarbe­iterfamili­en (u. a. Bild oben) auf einem Feld unter einem Baum.
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