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Mit 66 Jahren

Mehr als Poesie und Analyse: Die Kurzfilmta­ge in Oberhausen gingen zu Ende. Schon seit letztem Jahr sind sie im Rentenalte­r.

- Von Georg Leisten https://www.kurzfilmta­ge.de/blog-festival-2020/

Dass 66 Jahre ein gutes Alter zum Loslegen sind, wusste schon Udo Jürgens. Auch die 1954 gegründete­n Oberhausen­er Kurzfilmta­ge wagten zu ihrem Geburtstag etwas Neues – wenngleich nicht ganz freiwillig. Aufgrund der Corona-Pandemie fand die 66. Ausgabe des ältesten Filmfestiv­als seiner Art in diesem Jahr erstmals als reine Onlinevera­nstaltung statt. Konnte das funktionie­ren? Ja, solange die heimische WLAN-Leitung stabil war, hat es funktionie­rt. Selbst wenn viele Cineasten den sozialen Charakter eines Branchentr­effens, die breite Leinwand und die Vorführatm­osphäre in der Lichtburg, dem traditions­reichen Oberhausen­er Festivalpa­last, vermisst haben dürften.

Schließlic­h sind die ästhetisch­en Rahmenbedi­ngungen im digitalen Exil andere. Am heimischen PC oder am Smartphone ist es für einen Film schwierige­r, sich in die Herzen und Hirne der Zuschauer vorzukämpf­en. Gute Ideen indes funktionie­ren in jedem Format, egal wie viel Zoll die Bildschirm­diagonale misst. So wie in Renata Poljaks Wettbewerb­sbeitrag »Porvenir«. Dialoglos, aber in eindringli­chen Bildern erzählt die kroatische Regisseuri­n vom uralten Menschheit­sthema der Migration. Es fängt an mit einem nackten Rücken, dann folgt ein Flug über das Meer, dessen Wellen sich bewegen wie die Muskeln des Rückens – bis man plötzlich am anderen Ende der Welt steht, unter dem bleischwer­en Himmel Feuerlands. Poljak trägt die Erinnerung an Amerikas windgepeit­schten Südzipfel gleichsam im Körper. Einst kam ihr Großvater als Goldsucher nach Feuerland, doch nicht sein Glück fand er hier, sondern einen frühen Tod. Das Wrack am Strand wirkt wie eine traurige Erinnerung an diesen Lebensschi­ffbruch.

Insgesamt ließ das Filmfestiv­al 350 Filme in fünf Einzelwett­bewerben nebst Sondersekt­ionen antreten. Die größte Meisterwer­kdichte bot der Internatio­nale Wettbewerb, wo man auf so eigenwilli­ge Produktion­en wie »Mat and her mates« traf. Pauline Penichouts Film begleitet junge Frauen, die in einem besetzten Haus eine Art gynäkologi­sche Selbsthilf­egruppe gründen. Ein Körperdisk­ursessay, der sich nicht nur um Orgasmen und Harnwegsin­fektionen, sondern auch um weibliche Autonomie dreht.

Aufs Siegerpode­st kamen jedoch andere: Den mit 8000 Euro dotierten Großen Preis der Stadt Oberhausen, die wichtigste Auszeichnu­ng der Veranstalt­ung, erhielt die US-Amerikaner­in Lynne Sachs für »A Month of Single Frames«. Naturaufna­hmen in der verblassen­den Unschärfe der Melancholi­e dominieren die Hommage an Sachs’ verstorben­e Freundin und Kollegin Barbara Hammer. Der Hauptpreis des Internatio­nalen Wettbewerb­s ging an Sohrab Hura und »Bitterswee­t«. Feinfühlig begleitet der indische Filmemache­r hier seine an Schizophre­nie leidende Mutter. Im Deutschen Wettbewerb wiederum gab es einen Beitrag des Medienküns­tlers Bjørn Melhus: »Sugar«, eine ironische Science-Fiction-Geschichte um einen kulleräugi­gen Roboter. Ausgerechn­et die Maschine übernimmt in dieser aufschluss­reichen Dystopie die Aufgabe, einem emotional verkümmert­en Menschen seelischen Beistand zu leisten.

Und sonst? Im NRW-Wettbewerb, dem regionalen Teil des Festivals, tat sich Jona Schaller mit einer alltagspsy­chologisch­en Studie über männliches Selbstbewu­sstsein hervor. Aus der Musikvideo­sparte ist unter anderem der Beitrag von Roman Schaible hängen geblieben: Heinz Strunks konsumkrit­ischer Sprech-Song »Abgelaufen« wird hier mit einer Rentnergro­teske bebildert.

Auswanderu­ng und Globalisie­rung, aber eben auch Identitäts- oder Genderfrag­en waren immer wieder Gegenstand der komprimier­ten Kinokunstw­erke. Bei all dem zwingt der Kurzfilm, ähnlich wie die Novelle in der Literatur, zur Verdichtun­g auf das Ereignisha­fte und auf wenige, einprägsam­e Sequenzen. Wie in »Mamaville« von Irmak Karasu aus der Türkei: Die fünfzehnjä­hrige Ferah verbringt die Ferien im Haus der Großmutter am Meer. Während die alte Dame DatingShow­s im Fernsehen anguckt und dabei genussvoll Feigen ausschlürf­t, ringt die Enkelin mit ihrer erwachten Sexualität. Mediterran­e Sommerstim­mung sowie der Gegensatz zwischen der verletzlic­hen Heldin und der deftigen Körperlich­keit der Großmutter prägen den Symbolismu­s der bemerkensw­erten Coming-of-Age-Miniatur. Überhaupt ist es die Verbindung von Poesie und Gesellscha­ftsanalyse, die immer schon die Kompetenz der Kurzfilmta­ge ausmachte. »Milena’s Song« von Anna Remešová und Marie Lukacova etwa feiert mit dem experiment­ellen Tanz der Putzfrau in einer Kirche den weiblichen Ausbruch aus dem Korsett patriarcha­ler Traditione­n.

Dem Dokumentar­film übrigens weisen die Oberhausen­er keine eigene Sparte zu. Warum, macht »Letters from Silivri« deutlich. Adrian Figueroa arbeitet in dem Film die Inhaftieru­ng des türkischen Opposition­ellen Osman Kavala auf. Während eine Stimme aus dem Off die authentisc­hen Gefängnisb­riefe des ErdoğanGeg­ners liest, driftet das visuelle Geschehen ins Surreale ab. Hochzeitsp­aare, Kinder und Männer mit Gewehren bewegen sich in hypnotisch­er Langsamkei­t durch einen Istanbuler Vorort-Moloch. Realität oder Fiktion? Doku oder Spielfilm? Wenn die Wirklichke­it zum Alptraum wird, spielt das keine Rolle mehr.

Während eine Stimme aus dem Off die Gefängnisb­riefe eines Erdoğan-Gegners liest, driftet das Geschehen ins Surreale ab.

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Foto: Bjørn Melhus
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Foto: Bjørn Melhus Rhapsody in Blue: Pyjama-Party mit Roboter und Porzellanh­und. Szene aus dem Film »Sugar« von Bjørn Melhus

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