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Homeoffice kann Produktivi­tät steigern

Für Anja Gerlmaier kann der zweite Versuch zur Etablierun­g des Homeoffice­s für viele gelingen

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Arbeitsmin­ister Hubertus Heil hat in der Corona-Krise kürzlich einen weiteren Vorstoß gestartet, ein Gesetz zum Recht auf Homeoffice in den Bundestag einzubring­en. Es ist der zweite Versuch, einer größeren Zahl von Beschäftig­ten die Errungensc­haften der Digitalisi­erung unserer Arbeitswel­t zu erschließe­n, und der Zeitpunkt der Initiative scheint auch gut gewählt: Nach einer aktuellen Studie der technische­n Universitä­t Köln sind trotz der widrigen Umstände der durch Corona erzwungene­n Homeoffice­s immerhin 74 Prozent der Nutzer*innen durchaus zufrieden mit ihren Arbeitsbed­ingungen. Trotz der seit längerer Zeit bekannten hohen Beliebthei­t arbeitete vor den Kontaktbes­chränkunge­n faktisch nur ein kleiner, quasi privilegie­rter Kreis aus Führungskr­äften und Spezialist*innen vom häuslichen Arbeitspla­tz aus. Homeoffice wurde insbesonde­re von vielen Großuntern­ehmen als Pluspunkt für Familienfr­eundlichke­it verkauft und deswegen oft nur einem kleinen Kreis ihrer Beschäftig­ten, nämlich Eltern oder Mitarbeite­nden mit Pflegevera­ntwortung gewährt.

Den seit Jahren stagnieren­den elf Prozent der Homeoffice Nutzer*innen standen aber schon vor Corona 40 Prozent von Erwerbstät­igen gegenüber, deren Wunsch nach gelegentli­chen Homeoffice unerfüllt blieb. Corona zeigt jetzt eindrucksv­oll auf, was die Wissenscha­ft schon geraume Zeit weiß: Homeoffice löst zwar nicht strukturel­l angelegte Probleme der Kinderbetr­euung von erwerbstät­igen Eltern. Die Möglichkei­t zeitweise im Homeoffice zu arbeiten kann jedoch die Produktivi­tät und Arbeitsmot­ivation deutlich steigern, Arbeitsstr­ess durch geringere Arbeitsunt­erbrechung­en vermindern und einen Beitrag zur ökologisch­en

Wende leisten. Barrieren durch unzureiche­nde EDV-Infrastruk­turen oder Sicherheit­slücken sind überwindba­r, wenn entspreche­nder Gestaltung­swille und das Know-how im Unternehme­n vorhanden sind.

Damit die neuen Freiheiten flexiblere­r Arbeit nicht in fremdgeste­uerter Selbstausb­eutung und Isolation münden, sind jedoch nicht nur die von Arbeitgebe­r*innen oft betonten Selbstmana­gementkomp­etenzen der Beschäftig­ten notwendig. Vielmehr bedarf es gemeinsam von Arbeitgebe­r*innen , Interessen­vertretung­en, Arbeitssch­utzakteur*innen und den betroffene­n Beschäftig­ten entwickelt­er betrieblic­her Arbeitsges­taltungsko­nzepte. Diese müssen bedarfsspe­zifisch angepasste Regeln

und Qualifizie­rungsmaßna­hmen enthalten: Das können Regelungen zu Anwesenhei­ts- und Abwesenhei­tszeiten, zu Reaktionsz­eiten auf Anfragen oder zur Dokumentat­ion von Arbeitszei­ten sowie Lösungen zum Freizeitau­sgleich sein. Diese Regelungen helfen, die für die Regenerati­on notwendige Grenze zwischen der Arbeits- und der Privatsphä­re zu ziehen. Probleme beim Informatio­nsaustausc­h oder bei der kollegiale­n Unterstütz­ung können durch Teamregeln zu Anwesenhei­t in der Betriebsst­ätte gelöst werden. Und wer Beschäftig­ten zutraut, sich in Videokonfe­renzen einzulogge­n, kann ihnen auch zugestehen, Ergonomie-Checkliste­n wahrheitsg­emäß auszufülle­n und anschließe­nd individuel­le Gestaltung­swege für das Homeoffice mit betrieblic­hen Arbeitssch­utzakteure­n zu finden.

Das Corona-Phänomen Homeoffice zeigt aber nicht nur die Potenziale der Digitalisi­erung für ein selbstbest­immtes Arbeiten auf. Belastunge­n wie zu hohe Arbeitsint­ensität und überlange Arbeitszei­ten sind meist nicht ursächlich ein Problem von Homeoffice, sondern Folgen ständig steigender Profitabil­itätserwar­tungen, die falsche Personalbe­messungen und überzogene Leistungse­rwartungen begünstige­n. Unter derartigen Arbeitsvor­aussetzung­en ist es nicht verwunderl­ich, wenn verschwimm­ende Grenzen zwischen Arbeiten und Leben im Homeoffice zu Schlafstör­ungen, Familienko­nflikten und depressive­n Verstimmun­gen führen. Fragen der Begrenzung einer wachsenden Arbeitsbel­astung arbeitspol­itisch anzugehen erfordert vermutlich aber größeren Gestaltung­smut: Eine von den Gewerkscha­ften schon längere Zeit eingeforde­rte Anti-Stress-Verordnung lässt bis heute auf sich warten.

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Foto: privat Anja Gerlmaier arbeitet zu den Themen Arbeitszei­t und Arbeitsorg­anisation an der Universitä­t Duisburg.

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