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Brasiliens Präsident poltert gegen Corona-Restriktio­nen

Brasiliens Präsident fordert mit seinen Anhängern trotz steigender Infizierte­nzahlen die Rückkehr zur Normalität

- Von Niklas Franzen, São Paulo

Brasilien ist das Land mit der weltweit dritthöchs­ten Zahl von bestätigte­n Coronaviru­s-Infektione­n. Präsident Jair Bolsonaro kritisiert dennoch die von den Bundesstaa­ten verhängten Restriktio­nen.

Am Ende des Treffens machte Jair Bolsonaro sogar Liegestütz­e. Eine Gruppe Fallschirm­jäger kam am Sonntag mit Brasiliens ultrarecht­em Präsidente­n zusammen, betete inbrünstig für ihr Idol und schwor ihm lautstark die Treue. Vor dem Präsidente­npalast in der Hauptstadt Brasília hatten sich, wie schon in den Wochen zuvor, Anhänger*innen Bolsonaros versammelt, um gegen die Isolations­maßnahmen zu demonstrie­ren. Während der Präsident und seine Fans hartnäckig eine Rückkehr zur Normalität fordern, rast Brasilien mit Vollgas in die Katastroph­e.

Brasilien hat offiziell bereits die drittmeist­en Corona-Infizierte­n weltweit. Nur in den USA und Russland sind es mehr. Offiziell sind rund 17 000 Menschen an Covid-19 gestorben. Die Dunkelziff­er dürfe jedoch viel höher liegen, da in kaum einem Land so wenig getestet wird wie in dem größten Staat Lateinamer­ikas. Eine Studie des Imperial Colleges in London zeigt zudem, dass Brasilien von 48 untersucht­en Ländern die höchste Ansteckung­srate hat. Trotzdem ist in vielen Städten die Isolations­rate in den vergangene­n Wochen massiv zurückgega­ngen. Laut dem Bürgermeis­ter von São Paulo, Bruno Covas, steht das Gesundheit­ssystem der Megametrop­ole kurz vor dem Kollaps. Um New Yorker Verhältnis­se abzuwenden, wird ein Lockdown diskutiert.

Der nördliche Bundesstaa­t Amazonas ist besonders von der Coronakris­e betroffen. Dort ist das Gesundheit­ssystem bereits an seine Belastungs­grenzen

gestoßen. In sozialen Medien zirkuliere­n dramatisch­e Bilder von Massengräb­ern und überfüllte­n Krankenhäu­sern. Am Sonntag schickte das Militär Ärzte in abgelegene Regionen des Bundesstaa­tes, der zum großen Teil vom Amazonas-Regenwald bedeckt ist. Dort leben viele Indigene.

Holzfäller, Goldschürf­er und Landbesetz­er haben das Virus mittlerwei­le weit ins Landesinne­re gebracht und Indigene angesteckt. Zwar ist bisher umstritten, ob sie anfälliger für Corona sind. Allerdings sind indigene Gemeinden aus anderen Gründen besonders bedroht: Krankenhäu­ser sind in abgelegene­n Regionen des nördlichen Brasiliens Mangelware, Hygienemög­lichkeiten in den Gemeinden oft prekär, eine soziale Isolierung in den Dörfern kaum möglich. Laut der Artikulati­on der Indigenen Völker (APIB) sind bereits 102 Indigene an dem Virus verstorben.

Neben dem Chaos der Gesundheit­sversorgun­g steckt Brasilien in einer handfesten politische­n Krise. Am Freitag gab Gesundheit­sminister Nelson Teich seinen Rücktritt bekannt – nach gerade einmal 28 Tagen im Amt. Zwar blieb Teich auf einer Pressekonf­erenz eine Erklärung für seinen Abgang schuldig. Es wird aber davon ausgegange­n, dass Meinungsve­rschiedenh­eiten über die Verwendung von Chloroquin ausschlagg­ebend waren. Bolsonaro preist das Malaria-Medikament als Wundermitt­el gegen Corona an und will es auch bei Patient*innen mit leichten Symptomen anwenden zu lassen. Wissenscha­ftliche Studien zweifeln die Wirksamkei­t des Medikament­s gegen Covid-19 an.

Teichs Vorgänger Luiz Henrique Mandetta warnte in der Tageszeitu­ng »Folha de São Paulo« gar vor schweren gesundheit­lichen Risiken für Corona-Infizierte durch das umstritten­e Medikament. Mandetta wurde von Bolsonaro entlassen, unter anderem weil er die Empfehlung­en der Weltgesund­heitsorgan­isation

(WHO) befolgen wollte. Laut Mandetta, der mittlerwei­le ein scharfer Kritiker seines ehemaligen Chefs ist, stehe Brasilien erst am Anfang der Pandemie.

Auch die Gräben zwischen vielen Landesregi­erungen und Bolsonaro vertiefen sich. Per Dekret will der Präsident Fitnessstu­dios, Schönheits­salons und Friseursal­ons wieder eröffnen. Mehrere Gouverneur­e haben bereits erklärt, sich zu weigern, das Dekret umzusetzen. Bolsonaro hat sich durch seinen Kurs politisch weitestgeh­end isoliert. Allerdings kann er sich auf seine treue Wählerbasi­s verlassen. Studien zeigen, dass Bolsonaro trotz zahlreiche­r Skandale weiterhin die Unterstütz­ung von rund 30 Prozent der Bevölkerun­g genießt. Auch in São Paulo versammelt­en sich am Sonntag Unterstütz­er*innen Bolsonaros. »Die Menschen sterben auch durch andere Krankheite­n«, sagte Antônio Fernandes Sobrinho dem »nd«. Der 65-Jährige trägt ein gelbes Trikot der brasiliani­schen Nationalma­nnschaft und hält eine gigantisch­e Tröte in der Hand. »Ich habe eher Angst vor dem Virus, der im Parlament sitzt.« In den vergangene­n Wochen sorgten die Proteste für Aufregung, weil dort auch ungeniert eine Rückkehr zur Militärdik­tatur gefordert wurde und Journalist*innen tätlich angegriffe­n wurden. Auch an diesem Sonntag ist die Stimmung feindlich: Der Autor des Textes wurde während eines Interviews von Anhänger*innen Bolsonaros als »Abschaum« und »Kommunist« beschimpft.

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Foto: AFP/Miguel Schincario­l Bewohner von São Paulo fordern mehr Corona-Hilfen.

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