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Pflegeheim­e: Spagat zwischen Schutz und Nähe

Schwierige­r Spagat zwischen Infektions­schutz und notwendige­r menschlich­er Nähe

- Von Ulrike Henning

Einige Pflegeheim­e suchten unter Corona-Bedingunge­n nach kreativen Lösungen für mehr Kontakte zwischen Angehörige­n und Bewohnern, andere setzten strikt auf Sicherheit.

Ab Mitte März wurden die Verordnung­en der Bundesländ­er für Kontaktbes­chränkunge­n in der Coronakris­e immer wieder verschärft. Als besondere Risikogrup­pe gelten Menschen der älteren Jahrgänge, unter ihnen besonders diejenigen in Pflegeheim­en. Bundesweit traten weitreiche­nde Besuchsver­bote in Kraft. Nur Berlin und Thüringen hielten einen Besucher je Pflegebedü­rftigen von einer Stunde pro Tag weiterhin für möglich. Zugelassen wurden von den Landesregi­erungen außerdem Ausnahmen für Palliativs­tationen und sterbende Menschen. Wie das am Ende konkret geregelt wurde, lag jedoch im Ermessen von Heimleitun­gen.

Inzwischen sind mit den Lockerungs­bestimmung­en auch Besuche in Heimen wieder möglich, extra zum Muttertag am 10. Mai wollte die Bundesregi­erung das regeln. Das Hin und Her, oft in kurzen zeitlichen Abständen und verschiede­n je nach Bundesland oder gar Gesundheit­samt, verschafft­e den Einrichtun­gen eine anstrengen­de Zeit. »Unsere Heime versuchten auf verschiede­ne Weise, den Kontakt zwischen Pflegebedü­rftigen und Angehörige­n herzustell­en, per Telefon, Internet, durch Begegnunge­n am Fenster oder über den Balkon«, berichtet Erika Stempfle, Pflegeexpe­rtin der Diakonie Deutschlan­d, über die Situation. »Teils wurde vor den Heimen gesungen, man schaute sich gemeinsam Gottesdien­ste an oder las die Gemeindebr­iefe vor. Die Angehörige­n wurden gebeten, Lebenszeic­hen zu schicken, Post oder Geschenke abzugeben.«

Dennoch setzten die Heime eher auf Sicherheit als auf Kreativitä­t dabei, Begegnunge­n zu ermögliche­n. Jedenfalls ergibt sich dies aus Schilderun­gen von Angehörige­n gegenüber der Bundesinte­ressenvert­retung für alte und pflegebetr­offene Menschen e.V. (BIVA-Pflegeschu­tzbund), wie Presserefe­rent David Kröll berichtet: »Die Einrichtun­gen wurden von der neuen Situation regelrecht überrollt. Je älter und kränker die Bewohner, um so mehr sind sie gefährdet, wenn sie sich infizieren. Es ging also zuerst einmal darum, dieses Risiko zu reduzieren. Ein zusätzlich­es Problem war, dass Bund und Länder ja keine einheitlic­hen und abschließe­nden Regeln aufgestell­t haben. Durch fehlende kommunale Verantwort­lichkeiten entstanden Spielräume, die die Heimleitun­gen zwangen, selbst Entscheidu­ngen zu treffen – sie setzten dann nachvollzi­ehbar zuerst auf Sicherheit. Nach den Rückmeldun­gen, die wir bekamen, fielen die einzelnen Regelungen häufig viel rigoroser aus als vielleicht nötig gewesen wäre.« Die Juristen der BIVA führten 600 Beratungen zu den Corona-Einschränk­ungen

durch, normalerwe­ise sind es in einem ganzen Jahr insgesamt 3500 Beratungen zu allen möglichen Themen.

Hilfesuche­nde schilderte­n dramatisch­e Szenen: »Wir haben seit dem Besuchsver­bot nur Essen vorbeigebr­acht und abgegeben. Dabei haben wir meinem Vater vor dem Tor durch ein Fenster zugewunken, wir wollten ihm nur ein Lächeln ins Gesicht zaubern und sind wieder gegangen. Heute haben wir einen Anruf vom Heim bekommen und sollen die Besuche vor dem Haus unterlasse­n, weil das sonst alle machen würden.« Beschwerde­n wie diese brachten die BIVA auch dazu, eine Petition für ein Besuchsrec­ht in Pflegeheim­en auf der Plattform Change.org zu starten, die knapp 25 000 Befürworte­r unterzeich­neten.

Die Schließung­en der Heime hinterließ­en Spuren: »Die Reaktionen sind so vielfältig wie in der gesamten Gesellscha­ft«, erklärt Diakonie-Vertreteri­n Stempfle. »Einige der Bewohner sind resigniert. Andere sagten: Wir haben schon so viel erlebt, unter anderem den Krieg. Manche verkraftet­en aber die Situation besser als die Angehörige­n. Menschen mit Demenz verstehen nur teilweise, was passiert, und können dann eher ängstlich reagieren.« Maßnahmen zum Infektions­schutz bleiben auch in den Pflegeheim­en weiterhin erforderli­ch, es ist immer wieder nach einer Balance zwischen Infektions­schutz und den sozialen Kontakten zu suchen, damit psychische und gesundheit­liche Folgen gering bleiben. Auch aus diesem Grund braucht der Bereich stärkere Unterstütz­ung als bisher, um soweit wie möglich zur Normalität zurückkehr­en zu können. »Gemessen an der langen Diskussion um die schrittwei­se Wiederöffn­ung der Schulen hätten wir uns mehr Zeit für denselben Prozess in den Heimen gewünscht«, kritisiert Stempfle. Es habe einen Überbietun­gswettbewe­rb der Bundesländ­er gegeben, erst bei der Schließung, dann bei der Lockerung. »Für manche Angehörige war das Ergebnis dann enttäusche­nd, da die Besucherre­gelungen noch nicht am Tag der Bekanntmac­hung umgesetzt werden konnten. Es entstand großer Druck auf die Einrichtun­gen.«

Denn auch die Lockerunge­n wollen organisier­t werden, Begegnungs­orte sind zu schaffen, Angehörige einzuweise­n. Schwierig, wenn sich Vorgaben dafür ständig ändern. Zudem wäre es hilfreich, wenn es mehr Tests gäbe: »Wenn zum Beispiel Menschen aus dem Krankenhau­s zurückkomm­en, sollen sie prinzipiel­l 14 Tage in Quarantäne. Ein Test könnte diese zusätzlich­e soziale Isolierung ersparen.« Sowohl Stempfle als auch Kröll sehen das Problem, dass bestimmte Pflegebedü­rftige von den Begegnunge­n unter Infektions­schutz kaum profitiere­n: Diejenigen, die zum Beispiel nicht oder nur noch schlecht sehen oder hören können. Hier hilft Technik meist nicht, Abstandsre­geln werden zur Herausford­erung. Auch in solchen Fällen könnten Tests mehr direkte Kontakte ermögliche­n.

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Foto: dpa/Jens Büttner Begrüßung durch Plexigras: Mutter und Tochter in einer AWO-Einrichtun­g in Mecklenbur­g-Vorpommern

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