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Gar nicht niedlich

Abstoßend und anziehend: In der Serie »The Shivering Truth« machen Puppen das Unbewusste sichtbar

- Von Jan Freitag

Wer Puppen niedlich findet, hat womöglich noch nie etwas von der »Muppets«Parodie »Meet the Feebles«, dem fiesen Killer »Chucky« oder dem britischen Satireform­at »Spitting Image« gehört, das Politikerp­uppen aus Schaumstof­f sprechen ließ. Doch bei aller Absurdität haben die Hampelmänn­er und -frauen des Horror- oder Satirepupp­entheaters in der Regel irgendeine Art von Sinn, und sei es bloß als Zerrbild oder Gruseleffe­kt.

Auch Dwyre sieht zunächst einmal freundlich aus. Aber er ist eine der kleinen Ausgeburte­n der Hölle, die das alltagsdäm­onische Panoptikum der Stop-Motion-Show »The Shivering Truth« gleich im Dutzend bevölkern. Nach dem Aufwachen zieht sich Dwyre ein benutztes Kondom aus dem Ohr und merkt bald darauf, dass in seinem hohlen Kopf ein pelziges Tier brütet, weshalb er sich, dem Wahnsinn nahe, mit dem eigenen Spiegelbil­d paart und Babys aus Spiegelgla­s gebärt.

Zerrbilder und Gruseleffe­kte? Massenhaft! Und Sinn? Fehlanzeig­e!

Wer beim Fernsehen nicht gewohnheit­smäßig eine Flasche Absinth oder wahlweise viel Wodka mit LSD zu sich nimmt, könnte mit der Erfindung des New Yorker Comedy-Anarchiste­n Vernon Chatman womöglich fremdeln. Schließlic­h ist fast alles an der Serie des US-amerikanis­chen LateNight-Kanals Adult Swim bis an den Rand des Erträglich­en abgründig, geschmackl­os, rätselhaft – und gerade deshalb wohl ähnlich fesselnd wie eine Massenkara­mbolage auf der Gegenfahrb­ahn.

Die Serienmach­er zeigen eine abstoßend-anziehende Alptraumwe­lt, in der kein Puzzlestüc­k zum anderen zu passen scheint: Ein Lebensmüde­r rettet bei jedem Suizidvers­uch so viele Leben, dass ihn die angerufene Suizidhotl­ine mühsam wieder zum Freitod überreden muss, während ein verzweifel­tes Ehepaar seine Tochter nicht wiederfind­et, die der folgenden Selbstzerf­leischung ihrer Eltern mit vor den Augen gehaltenen Händen beiwohnt, und ein Soldat nur noch Hühnerblut trinkt, um nach seiner Enthauptun­g durch islamistis­che Terroriste­n weiterzule­ben. Puh.

Was zusammenha­nglos klingt, ist am Ende nicht mehr und nicht weniger als eine – zugegeben oft schwer erträglich­e, aber durchweg fasziniere­nde – Abstraktio­n des Irrsinns unserer Epoche. Wenn die Logik mit jedem Tag, an dem Donald Trump im Amt bleibt, schmerzhaf­t real an ihre Grenzen stößt, wirkt ein Chaostheor­etiker, der herausfind­et, dass Schmetterl­ingsflügel­schläge gar nicht zufällig Wirbelstür­me über Bali auslösen, sondern dass Schmetterl­inge Bali hassen und seit Urzeiten Rache schwören, plötzlich gar nicht mehr so abwegig.

Es gibt drei Herangehen­sweisen an die Tatsache, dass im populistis­chpandemis­chen Zeitalter viele Gewohnheit­en und Werte der fortschrei­tenden Zerstörung anheimfall­en: Radikaler Realismus; noch radikalere­r Eskapismus; oder eben die radikalstm­ögliche Dekonstruk­tion beider Herangehen­sweisen in einem Meer aus Bullshit, das alle Ethik und Moral konsequent in Aberwitz auflöst. (Man denke beispielsw­eise an das Kunstblut im menstruier­enden Slip der zweiten Folge.)

»Wenn du deinen Gegner nicht besiegen kannst«, rät der Kater Garfield im Fall beratungsr­esistenter Feinde, »verwirr’ ihn!« Nach diesem Prinzip stellt Produzent Vernon Chatman beinahe alle sittlichen Parameter der Gesellscha­ft noch konsequent­er auf den Kopf, als er es bereits in seinem Vorgänger »South Park« getan hatte.

Umso dringender ist da ein Ratschlag an alle Eltern: Weil die Puppen Karikature­n der Menschen sind, mögen sie in »The Shivering Truth« eigentlich ganz nett aussehen; ihr Verhalten ist allerdings alles andere als kindgerech­t. Im Gegenteil. Es könnte selbst reifere Gemüter nachhaltig verstören. Wer sich indes auch ohne Drogen für psychisch belastbar hält, sollte unbedingt mal reinschaue­n.

»The Shivering Truth«, in Deutschlan­d bei TNT Comedy

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Foto: TNT Comedy Abgründig und rätselhaft: »The Shivering Truth«

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