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Du in der Millionens­tadt

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Auf den folgenden Seiten werden Sie durch die »astronomie der straße« ziehen und ab und zu an Wänden mit »zerhackten graffitihe­rzen« pausieren. Henning Kreitel nimmt uns mit durch seine Wahrnehmun­gswelt einer Millionens­tadt, die zweifelsoh­ne als Berlin zu identifizi­eren ist und dennoch darüber hinaus großstädti­sch ist. Lyrik über die Großstadt hat es schon viel gegeben. Das Gedicht scheint mit der Flüchtigke­it des Urbanen besser mithalten zu können als die Prosa. Das galt schon, als Franz Hessel sein Buch über die »Spaziergän­ge in Berlin« vor siebzig Jahren veröffentl­ichte. Doch es hat sich einiges getan seitdem, und viele offensicht­liche Fragen, mit denen das Leben in Berlin heute zu kämpfen hat, eignen sich nicht, um nostalgisc­h an die Zeiten des Flaneurs anzukoppel­n. So ist für Henning Kreitel das Berlin der 2010er Jahre kein Ort der Romantik. Vielmehr beschreibt er in seinen sprachlich­en Skizzen Momente und Empfindung­en, die von Ambivalenz und schwierige­r Aneignungs­fähigkeit zeugen. In seinen Augen haben sich die »lustentker­nten kiezbewohn­er« schon lange mit den Veränderun­gen in ihrer Nachbarsch­aft abgefunden, die sie nicht zu verhindern vermögen.

Berlin ist im Übergang und generiert seine neuen Ortsgefühl­e und widersprüc­hlichen Emotionen. Räume werden durch die Gentrifizi­erung fremdbesti­mmt, ihre »emporen« sind aber einladend für die Wohnungsei­nbrecher. Diese Stadt hypnotisie­rt auf eine eigentümli­che Weise und produziert Bilder, die verstören. Fahrradfah­rer werden zu Zielscheib­en, Blaulichte­r entwickeln die Qualität von Sirenen, während zugleich um Leben gerungen wird. Lassen sich diese Gefühle noch einhegen und auf einen Nenner bringen?

Einst waren Städte nur dadurch getrennt, dass Bewohner in verschiede­nsten Quartieren wohnten und sich an Orten der Arbeit, der Freizeit und der Kultur irgendwo temporär aufeinande­r einlassen mussten. Diese Segregatio­n zwischen den sozialen Schichten wird heute neu ausgefocht­en. Die Trennlinie­n werden härter gezogen und durchquere­n alle Stadtteile. Zugleich passieren wir diese symbolisch­en Grenzen durch eine physische Mobilität, die uns emotional nicht mehr mitzunehme­n weiß […]

Frank Eckardt, Professor für Stadtsozio­logie an der Bauhaus-Universitä­t Weimar

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