nd.DerTag

Bis zum Juni 1998

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glaubte ich meiner Mutter alles. Aber auch später gelingt es mir nicht, zu vergessen.

Im November 1976 bringt Vater aus Moskau einen zusammenkl­appbaren Kinderwage­n aus Leinen mit, Mutter ist im zweiten Monat schwanger und brüllt meinen Vater im Treppenhau­s an, dass man in einem Kinderwage­n zum Sitzen kein Neugeboren­es durch den Schnee schieben könne.

Unter Tränen zerschlägt meine Mutter all ihre schönen Pläne für die Zukunft.

Mein Vater steht mit dem aufgeklapp­ten, eben noch freudig präsentier­ten Kinderwage­n im Treppenhau­s und weiß nicht, was er tun soll.

Er versucht noch einmal, in die Wohnung zurückzuge­hen, doch meine Mutter sperrt heulend die Tür ab.

Nur im Bett ist es warm, doch unter der Decke habe ich Angst.

Mein Körper – mit jedem Knacken erinnert er sich, erinnert er mich.

Für mich ist Sibirien das Schönste.

Ich kann mir die im Schlaf erfrorenen, kohlefress­enden Menschen nicht vorstellen, die blutenden Handfläche­n der Gefangenen.

Sibirien ist für mich nur weich und unendlich, wo man sich nicht fürchten kann, egal, wie sehr man es versucht.

Die Daunendeck­en meiner Großmutter und die Freude, wie ich mich beim Einschlafe­n an ihren warmen, dicken Körper schmiegen darf.

Wohltuende Nähe, die dich schützt vor dem Dasein.

Hier erblindest du, wenn du ins Unendliche schaust.

Du willst dich unter dem Schnee verstecken. Im Winter verdorrt der Frost die Seelen.

Wieder und wieder schneit es.

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