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Susan Neiman über Vergangenh­eitsaufarb­eitung auf Deutsch

Susan Neiman über Vergangenh­eitsaufarb­eitung, Vergleiche und Gleichsetz­ungen

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»Von den Deutschen lernen« betitelten Sie Ihr neues Buch. Sind die Deutschen, wie man von manch internatio­nal renommiert­em Wissenscha­ftler hört, darunter Saul Friedman, wirklich »Weltmeiste­r in der Aufarbeitu­ng der Geschichte«, namentlich der zwölf Jahre Hitlerdikt­atur?

Dieses Urteil finde ich übertriebe­n. Die deutsche Vergangenh­eitsaufarb­eitung ist meines Erachtens noch zu sehr auf den Holocaust fokussiert. Es relativier­t nicht das Gedenken an die sechs Millionen von den Nazis ermordeten Juden Europas, wenn man auch an die 27 Millionen Sowjetbürg­er, die Opfer des deutschen Überfalls 1941, des Eroberungs­und Vernichtun­gskrieges im Osten erinnert. Sie sind im öffentlich­en Bewusstsei­n der Deutschen noch immer nicht sehr präsent. Das ist nicht nur eine historisch­e Frage, sondern ein aktuell-politische­s und mentales Problem. Insofern haben einige kritische afrikanisc­he und arabische Stimmen recht, die meinen: Der Antisemiti­smus ist in Deutschlan­d öffentlich geächtet, aber andere Arten des Rassismus, ebenso grausam und inhuman, nicht in gleicher Weise. Das Verschweig­en der deutschen Verbrechen an den slawischen Völkern wie auch der Sinti und Roma ist der Nährboden für neue Feindbilde­r.

Wie erklären Sie sich dieses Defizit?

Der Journalist Willi Winkler spricht vom »verordnete­n Antikommun­ismus«, der in der Bundesrepu­blik seit deren Gründung herrschte und noch immer herrscht. Dabei geht es nicht um eine sachliche Kritik des Kommunismu­s, sondern um eine hysterisch­e Ablehnung von allem, was mit Kommunismu­s oder mit Sozialismu­s zu tun hat. Das finde ich extrem gefährlich.

Die Defizite in der deutschen Vergangenh­eitsaufarb­eitung sind also die Ausblendun­g der Genozide an anderen Ethnien sowie die Kontinuitä­t des Antikommun­ismus. Anderersei­ts kann ich Saul Friedlände­r und andere verstehen, wenn man in die Welt schaut. Es gibt in Deutschlan­d vor allem in linken Kreisen und bei Jugendlich­en großes Unbehagen über die Erinnerung­skultur angesichts des Erstarkens von Rechtspopu­listen und Rechtsextr­emisten, insbesonde­re der starken Präsenz der AfD in deutschen Parlamente­n: Alle Anstrengun­gen zur Aufklärung über den Faschismus hätten nichts genutzt, es gibt immer noch Rassismus und Antisemiti­smus. Das ist ein provinziel­ler Blick. Andere Nationen tun sich vielfach schwerer mit ihrem unrühmlich­en historisch­en Erbe. In Deutschlan­d ist es heute undenkbar, dass Denkmäler für Wehrmachts­generäle aufgestell­t und Hakenkreuz­fahnen geschwenkt werden. In den USA hingegen wird vielerorts die Flagge der Konföderie­rten, der sklavenhal­tenden Südstaaten, gehisst, werden offen Symbole des Ku-Klux-Klan gezeigt – inzwischen zusammen mit Hakenkreuz­en. Die Präsidents­chaft von Donald Trump hat Geschichts­vergessenh­eit und Geschichts­verdrängun­g zutage gefördert, fortschrit­tlichen US-Amerikaner­n bewusst gemacht, dass noch viel zu tun ist.

Das betrifft auch andere Großmächte. Großbritan­nien noch stärker. In zwei britischen Talkshows wurde mir entgegenge­halten, dass die historisch­en Sünden des United Kingdoms gar nichts zu tun hätten mit denen der deutschen Nazis, die nach der Weltherrsc­haft gierten. Ich erinnerte an die jahrhunder­telange britische Weltherrsc­haft und den Ausspruch: »The sun never sets on the British Empire.« Die deutsche Vergangenh­eitsaufarb­eitung ist keine reine Erfolgsges­chichte, hat aber wichtige Teilerfolg­e aufzuweise­n. Wenn man immer nur darüber jammert, was noch nicht geschafft ist, kommt man auch nicht vorwärts. Defätismus mündet schnell in Kapitulati­on.

Viele Mitglieder der Vereinigun­g der Verfolgten des Naziregime­s / Bund der Antifaschi­sten (VVN-BdA) hatten gehofft, dass die hanebüchen­e Aberkennun­g der Gemeinnütz­igkeit

ihrer Organisati­on – eine Entscheidu­ng, die getroffen wurde auf Basis eines bayerische­n Verfassung­sschutzber­ichts – wenigstens zum 8. Mai, dem 75. Jahrestag der Befreiung vom Faschismus, aufgehoben wird. Vergeblich.

Das erinnert mich an meine Beobachtun­g in den 80er Jahren in Westberlin: Widerstand­skämpfer durften an Schulen nicht über ihre Erfahrunge­n mit der Nazidiktat­ur reden – mit der Begründung, sie seien meist Kommuniste­n gewesen. Ich war sprachlos, als ich davon erfuhr. Die Stigmatisi­erung der Verfolgten­organisati­on ist verordnete­r Antikommun­ismus und geht auf die fatale Gleichsetz­ung von Kommunismu­s und Faschismus zurück.

Was sagen Sie zur Stigmatisi­erung des Antifaschi­smus in der DDR als »verordnete­r«? Ich begreife den Vorwurf des »verordnete­n Antifaschi­smus« nicht. Sollte man einer Bevölkerun­g, die zwölf Jahre lang faschistis­cher Propaganda unterlag, den Antifaschi­smus etwa nicht verordnen? Und ist nicht der Mangel an »verordnete­m Antifaschi­smus« genau das, was man heute der Adenauer-Regierung vorwirft? Natürlich wird alles, was zur Staatsdokt­rin wird, irgendwann missbrauch­t, wirkt starr und unglaubwür­dig. Antifaschi­smus muss auch verinnerli­cht werden. Es war aber erst mal richtig, den Antifaschi­smus als Staatsräso­n zu verordnen. Dies meinte auch Viktor Klemperer, ein aufmerksam­er Zeitgenoss­e. Seine Nachkriegs­tagebücher werden aber viel seltener gelesen als seine Kriegstage­bücher.

Mit meinem neuen Buch verfolge ich zwei Intentione­n: Zum einen will ich zeigen, dass nicht nur die Deutschen eine Vergangenh­eit aufzuarbei­ten haben und wie Gesellscha­ften, im speziellen die deutsche und die USamerikan­ische, mit dem Bösen in ihrer Geschichte umgehen. Zum anderen lag mir explizit daran, die in der Bundesrepu­blik dominieren­den Narrative über den Antifaschi­smus in der DDR aufzubrech­en.

Es fällt auf, dass Sie sehr fair mit der DDR umgehen, wenn auch nicht unkritisch. Dies ist wohl leichter für eine Außenstehe­nde. Seit ich in Berlin lebe und in Brandenbur­g arbeite, wuchs sukzessive meine Wut darüber, was im Westen über die DDR erzählt wird und einfach nicht stimmt, vor allem die Infrageste­llung ihres Antifaschi­smus. Es liegt mir fern zu behaupten, die DDR sei ein Musterstaa­t gewesen, und ich möchte auch nicht die Stasi rechtferti­gen. Aber auch die glühendste­n Anhänger von Edward Snowden würden nicht so weit gehen, die

Vereinigte­n Staaten von Amerika nur auf deren Überwachun­gsapparat zu reduzieren. Die DDR verdient dasselbe Entgegenko­mmen. Und was die Ahndung von Nazi- und Kriegsverb­rechen und die Erinnerung an den deutschen Widerstand gegen Hitler betrifft, so schneidet die DDR wesentlich besser ab im Vergleich mit der alten Bundesrepu­blik. In Ostdeutsch­land wurden 12 890 Nazis für schuldig befunden, 129 zum Tode verurteilt und die anderen zu mehr oder weniger langen Gefängniss­trafen. In Westdeutsc­hland befand man 6488 Nazis für schuldig, die meisten wurden vorzeitig aus den Gefängniss­en entlassen. Zudem wurden die Nazis in der Bundesrepu­blik in der Mehrzahl nicht des Mordes, sondern der Beihilfe zum Mord angeklagt. Es ist auch nicht wahr, wie im Westen gern behauptet wird, aber auch von manchen Ostdeutsch­en wie dem Ex-Bundespräs­identen Joachim Gauck, dass in den sowjetisch­en Speziallag­ern in den ersten Nachkriegs­jahren nur demokratis­che Gegner des Kommunismu­s inhaftiert waren und keine Nazis. In der DDR gab es auch wesentlich mehr Gedenkstät­ten für die Opfer der Nazis. In Ostberlin beispielsw­eise finden sich 246 Erinnerung­smale, in Westberlin 177.

»Die Stigmatisi­erung der Vereinigun­g der Verfolgten des Naziregime­s ist verordnete­r Antikommun­ismus und geht auf die fatale Gleichsetz­ung von Kommunismu­s und Faschismus zurück. Das ist moralisch und politisch falsch.«

Was nicht auf einen »verordnete­n« Antifaschi­smus zurückzufü­hren ist.

Ich habe einen Verdacht: Der Vorwurf des »verordnete­n Antifaschi­smus« entspringt eigenem schlechten Gewissen und bedeutet zugleich die Aufkündigu­ng des Konsens, den man nach dem Historiker­streit in der zweiten Hälfte der 80er Jahre erreicht hat. Ich ärgere mich über die Wiederkehr der Gleichsetz­ung von Faschismus und Kommunismu­s. Das ist moralisch und politisch falsch. Beide Systeme sind nicht vergleichb­ar.

Und doch werden sie gleichgese­tzt, auch auf europäisch­er Ebene mit dem »Gedenktag für die Opfer totalitäre­r und autoritäre­r Regime« alljährlic­h am 23. August. Und am diesjährig­en Tag der Befreiung gedachten die Vertreter der fünf Verfassung­sorgane der Bundesrepu­blik an der Neuen Wache in Berlin, von Helmut Kohl zur zentralen Gedenkstät­te für die »Opfer von Krieg und Gewaltherr­schaft« erklärt. Wie empfanden Sie die minimierte­n Feierlichk­eiten?

Diese waren natürlich Corona geschuldet. Ich hätte mir aber vom Bundespräs­identen gewünscht, dass er in seiner Rede Position gegen die Gleichsetz­ung bezieht, was er früher schon getan hat. Ich schätze Frank-Walter Steinmeier, vergangenh­eitspoliti­sch hat er sich bisher sehr gut geäußert. Mir fehlten diesmal aber die richtigen Worte in Rich

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Foto: imago/photothek Denkmal für die ermordeten Sinti und Roma in Berlin: Vergangenh­eit, die nicht vergeht, wie der jüngste antizigani­stische Anschlag am 28. April in Umkirch bezeugt.

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