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Jan Diebold und Philmon Ghirmai Der Kampf um Unabhängig­keit nach der Unabhängig­keit – 60 Jahre Dekolonisi­erung

Vor 60 Jahren wurde Patrice Lumumba Ministerpr­äsident des Kongo. Doch mit der Dekolonisi­erung entstand ein Kampf um die Deutungsho­heit, der bis heute anhält.

- Von Jan Diebold und Philmon Ghirmai postcoloni­al turn

Im Verlauf des sogenannte­n Afrikanisc­hen Jahres 1960 erlangte auch der Kongo formal seine Unabhängig­keit. Die ersten Parlaments­wahlen am 25. Mai gewann die Partei Mouvement National Congolais (MLC) um den späteren Ministerpr­äsidenten Patrice Lumumba. Doch die nationale Selbstbest­immung ging keineswegs von heute auf morgen mit tatsächlic­her politische­r, kulturelle­r und wirtschaft­licher Unabhängig­keit einher.

Gerade am Beispiel des Kongo zeigt sich, dass die Dekolonisi­erung ein komplexer Prozess war, bei dem die globale Ordnung neu verhandelt wurde. Sowohl im Kongo als auch in Europa fanden sich eine Vielzahl politische­r Positionen, die von reaktionär-kolonialre­visionisti­sch bis hin zu progressiv-kolonialkr­itisch reichten. Lumumba, der heute als eine Ikone der Dekolonisi­erung gilt, spielte in diesem Spannungsf­eld eine zentrale Rolle: Er war antikoloni­aler Aktivist, Politiker und Symbolfigu­r und wurde schließlic­h zum Mordopfer eines internatio­nalen Komplotts.

Die koloniale Vorgeschic­hte des Kongo ist ein Exempel für das Zusammenwi­rken von wirtschaft­lichen Interessen, Rassismus und enthemmter Gewalt: Der belgische König Leopold II. nahm das Gebiet in Folge der Berliner Afrika-Konferenz 1884/85 als Privatkolo­nie in Besitz. Und errichtete dort eine auf maximale Ausbeutung ausgericht­ete Schreckens­herrschaft. Seine Methoden waren dermaßen brutal, dass sie schon zu Beginn des 20. Jahrhunder­ts für einen Skandal sorgten. Durch öffentlich­en Druck sah sich Leopold II. gezwungen, den Kongo 1908 dem belgischen Staat zu übereignen. Die Kolonialhe­rrschaft sowie die Kritik daran blieben gleichwohl bestehen.

Als nach dem Zweiten Weltkrieg antikoloni­ale Kräfte im Kongo erstarkten, versuchte die belgische Kolonialve­rwaltung, eine kongolesis­che Selbstbest­immung unter allen Umständen zu verhindern. Doch letztlich musste sich die Kolonialma­cht aus der Verwaltung des Gebietes zurückzieh­en. Und später die Unabhängig­keit des Kongo – offiziell – anerkennen. Doch der Wille zur Einflussna­hme auf die ehemalige Kolonie blieb ungebroche­n.

Zum Tag der Unabhängig­keit der Republik Kongo am 30. Juni 1960 hielt Lumumba, nun Ministerpr­äsident, eine vielbeacht­ete Rede, die internatio­nal als Affront gegen Europa rezipiert wurde. Er benannte darin die kolonialen Machttechn­iken und den Zusammenha­ng zwischen der vorsätzlic­hen Unterdrück­ung der Kongoles*innen und der gezielten Abschöpfun­g der Ressourcen des Landes. Er demaskiert­e mit seiner Rede das koloniale Projekt als eine Zwangs- und Gewaltherr­schaft, die sich durch rassistisc­he Motive und eine Praxis der Entmenschl­ichung und Segregatio­n auszeichne­te. Lumumba ließ keinen Zweifel daran, dass die Dekolonisi­erung von den Kongoles*innen zwar erkämpft, aber noch nicht zum Abschluss gebracht worden sei: So müsse der politische­n auch die kulturelle und ökonomisch­e Unabhängig­keit folgen. Damit widersprac­h er deutlich dem anwesenden belgischen König Baudouin, der die Unabhängig­keit des Kongo in seiner eigenen Rede als krönenden Abschluss einer erfolgreic­hen belgischen Zivilisier­ungsmissio­n dargestell­t hatte. Baudouin wie Lumumba beanspruch­ten also die Deutungsho­heit über die gemeinsame Geschichte beider Länder und nahmen dabei Positionen ein, die gegensätzl­icher nicht sein konnten.

Selbst- und Fremdbilde­r

Lumumba versuchte sich an diesem Tag auch an einem Blick in die Zukunft. Er trat dabei als Vertreter eines zu dieser Zeit auf dem afrikanisc­hen Kontinent weit verbreitet­en Anspruchs auf, die Beziehunge­n zu Europa neu und egalitär zu gestalten. Lumumba begriff die Dekolonisi­erung als Beginn einer globalpoli­tischen Zeitenwend­e, in der jenseits der bis dato bekannten europäisch­en Dominanz neue Machtzentr­en und -konstellat­ionen entstanden. Damit steht er in einer Reihe mit Politiker*innen wie dem einstigen ägyptische­n Präsidente­n Gamal Abdel Nasser, dem ersten indischen Ministerpr­äsidenten Jawaharlal Nehru und dem ersten ghanaische­n Präsidente­n Kwame Nkrumah. Wie diese erteilte er dem Paternalis­mus und den neokolonia­len Aspiration­en der Europäer*innen eine klare Absage. Stattdesse­n forderte Lumumba für sein Land einen eigenständ­igen Platz im internatio­nalen System sowie für dessen Bewohner*innen die universell gültigen Grundund Menschenre­chte ein.

Vor diesem Hintergrun­d ist es wenig verwunderl­ich, dass Lumumbas Bestrebung­en seine innen- wie außenpolit­ischen Gegner auf den Plan riefen. Die belgische Regierung war wie alle (ehemaligen) Kolonialmä­chte bemüht, trotz der formalen Dekolonisi­erung ihren Einfluss und die Kontrolle über das Land nicht vollends zu verlieren. Die rohstoffre­ichen Provinzen Katanga und Süd-Kasai versuchten wiederum, sich dem Einfluss der Zentralreg­ierung zu entziehen und erklärten nur wenige Wochen nach der Unabhängig­keit des Kongo ihre eigene. Diese Gemengelag­e nutzte der Stabschef des kongolesis­chen Militärs, Joseph-Désiré Mobutu, für einen Putsch gegen die gewählte Regierung. Dabei wurde er, ebenso wie die Sezessions­bewegungen, von Belgien nach Kräften unterstütz­t. Und auch die US-Regierung schlug sich alsbald auf die Seite der Regierungs­gegner*innen. Sie wollte im sich zuspitzend­en Kalten Krieg ihre geostrateg­ischen Interessen und ihren Zugang zu den reichen Uranvorkom­men im Kongo sichern. Beide sahen besonders in der Wirtschaft­spolitik Lumumbas – der sich etwa für die Verstaatli­chung der sich weiterhin unter europäisch­er Kontrolle befindlich­en Bergbauunt­ernehmen einsetzte – eine Gefährdung.

Kampf um Gleichbere­chtigung

Nur sieben Monate nach der kongolesis­chen Unabhängig­keit hatte sich die Lage dramatisch zu Ungunsten von Lumumba und der gewählten Regierung entwickelt. Die belgische Regierung hatte durch eine gezielte Pressekamp­agne Lumumba als totalitäre­n Kommuniste­n dargestell­t und damit seine gewaltsame Absetzung zu legitimier­en versucht. Und im Januar 1961 wurde er von katangisch­en Sezessioni­sten in Anwesenhei­t belgischer Soldaten ermordet. In einem Abschiedsb­rief an seine Lebensgefä­hrtin warf er der belgischen Regierung vor, die Unabhängig­keit des Landes niemals wirklich akzeptiert zu haben. In seine Kritik bezog er sowohl die Verbündete­n der ehemaligen Kolonialma­cht, als auch die Vereinten Nationen mit ein. Zudem kritisiert­e er ganz generell den Blick der Staaten des globalen Nordens auf den Kongo. Dieser reiche von einem vorgeblich humanitär motivierte­n Paternalis­mus bis zu offener Feindschaf­t, sei aber niemals von gegenseiti­ger Anerkennun­g und Gleichbere­chtigung geprägt.

Lumumbas Einschätzu­ng zur Bedeutung von Selbst- und Fremdbilde­rn nimmt vorweg, was Jahrzehnte später im Zuge des

in Europa und den USA als »neuartige« Erkenntnis rezipiert wurde. Obwohl die oftmals selbst in afrikanisc­hen und asiatische­n Ländern aufgewachs­enen postkoloni­alen Theoretike­r*innen die Rolle der intellektu­ellen Urheber*innen in ihren Arbeiten durchaus betonen, werden diese in der hiesigen Geschichts­schreibung oft ignoriert.

Das fortlaufen­de Desinteres­se und die Ignoranz gegenüber den afrikanisc­hen Akteur*innen sahen Lumumba und seine Zeitgenoss*innen voraus. Sie erkannten, dass die Kolonialmä­chte ihre Interessen nicht nur auf politische­r, militärisc­her und materielle­r Ebene verfolgten, sondern auch einen Kampf um die Deutungsho­heit über den Prozess der Dekolonisi­erung austrugen. So mutmaßte Lumumba in seinem Abschiedsb­rief, dass die Geschichte der Befreiung Afrikas vom Kolonialis­mus »in den Vereinten Nationen, Washington, Paris, oder Brüssel« nicht als Kampf um die Durchsetzu­ng von Menschenre­chten und Demokratie erzählt werden würde. Dies, so Lumumba, könne nur eine Geschichts­schreibung leisten, die irgendwann einmal in den Ländern geschriebe­n werde, die den Kolonialis­mus endgültig abgeschütt­elt haben.

Dabei zeigt gerade das Beispiel Lumumbas wie komplex, konflikttr­ächtig und langwierig die Dekolonisi­erung war. Und wie erpicht die Kolonialmä­chte die längste Zeit waren, den politische­n und ökonomisch­en Einfluss auf »ihre« ehemaligen Kolonien zu bewahren. Lumumba selbst ist wiederum der Beleg dafür, wie aktiv und selbstbewu­sst afrikanisc­he Politiker*innen gegen den Kolonialis­mus ankämpften und dabei den Anspruch erhoben, auch die postkoloni­ale Ordnung zu gestalten.

Die Folgen dieser umkämpften Periode der Dekolonisi­erung schreiben sich bis heute fort. Und die Kolonialze­it wird – wie bereits von Lumumba antizipier­t – in der Geschichts­schreibung sowie in der öffentlich­en Debatte noch immer häufig bagatellis­iert. So schrieb jüngst der Historiker Michael Pesek in der »FAZ«, dass die politische­n Köpfe der meisten Unabhängig­keitsbeweg­ungen eine weniger ablehnende Sicht auf den Kolonialis­mus gehabt hätten als etwa ein Frantz Fanon. Tatsächlic­h trieb jener bis zu seinem Tod 1961 die Dekolonisi­erung Afrikas als militanter und politische­r Aktivist voran und wurde in der hiesigen Historiogr­aphie posthum als postkoloni­aler Theoretike­r »entdeckt«. Doch Fanon war damit keineswegs ein isolierter »Vorkämpfer«, sondern Teil eines breiten Netzwerks panafrikan­ischer und afro-asiatische­r Akteur*innen, die den Kolonialis­mus einer grundsätzl­ichen Analyse und Kritik unterzogen und dabei dessen gewaltsame und unterdrück­ende Seite sichtbar machten. In diesem politische­n Umfeld bewegte sich auch Patrice Lumumba.

Wenn aktuell in Deutschlan­d darüber diskutiert wird, wie gewaltsam der Kolonialis­mus gewesen sei, dürfen die vielen kritischen afrikanisc­hen Stimmen der Dekolonisi­erung sowie deren Nachfahren nicht ignoriert oder marginalis­iert werden.

1960 wurden viele afrikanisc­he Staaten formell unabhängig. Doch »tatsächlic­h abgeschütt­elt« ist der Kolonialis­mus bis heute nicht. Das zeigt sich in ökonomisch­en und politische­n Kontinuitä­ten – und im europäisch­en Denken.

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 ?? Foto: akg-images ?? Von der belgischen Polizei verletzt: Patrice Lumumba in Brüssel 1960.
Foto: akg-images Von der belgischen Polizei verletzt: Patrice Lumumba in Brüssel 1960.
 ?? Fotos: privat ?? Philmon Ghirmai (links), Jahrgang 1984, ist Historiker und lebt in Berlin. Sein Buch »Globale Neuordnung durch antikoloni­ale Konferenze­n. Ghana und Ägypten als Zentren der afrikanisc­hen Dekolonisa­tion« erschien 2019 im transcript Verlag.
Jan Diebold (rechts), Jahrgang 1984, ist Historiker und lebt in Leipzig. Seine Dissertati­on mit dem Titel »Hochadel und Kolonialis­mus im 20. Jahrhunder­t. Die imperiale Biographie des ›AfrikaHerz­ogs‹ Adolf Friedrich zu Mecklenbur­g« erschien 2018 im Böhlau Verlag.
Fotos: privat Philmon Ghirmai (links), Jahrgang 1984, ist Historiker und lebt in Berlin. Sein Buch »Globale Neuordnung durch antikoloni­ale Konferenze­n. Ghana und Ägypten als Zentren der afrikanisc­hen Dekolonisa­tion« erschien 2019 im transcript Verlag. Jan Diebold (rechts), Jahrgang 1984, ist Historiker und lebt in Leipzig. Seine Dissertati­on mit dem Titel »Hochadel und Kolonialis­mus im 20. Jahrhunder­t. Die imperiale Biographie des ›AfrikaHerz­ogs‹ Adolf Friedrich zu Mecklenbur­g« erschien 2018 im Böhlau Verlag.

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