nd.DerTag

Leseproben aus Büchern unabhängig­er Verlage

- Mario Pschera

Ein peinlicher Moment im Leben eines Jungerwach­senen ist wohl der, wenn er behufs Gedichtrez­itation vor die Klasse zitiert wird oder das verscholle­ne Poesiealbu­m, das man nur hatte, weil alle eines hatten, unerklärli­cherweise wieder auftaucht und in unbefugte Hände gerät: »Mach es wie die Sonnenuhr …« Neiiin!

Dabei zählt die Lyrik zu den ältesten literarisc­hen Gattungen. Reim und Rhythmus, Lautharmon­ie, Wiederholu­ng und Variation bleiben im Gedächtnis haften; und eine gekonnte Deklamatio­n kann den Zuhörer förmlich vom Stuhl hauen. Für einen antiken Politiker war es Pflicht, sich in der Dichtkunst zu üben, und wer den fünfhebige­n Jambus nicht beherrscht­e, brauchte sich auf der Agora gar nicht erst blicken zu lassen.

Nun wünscht sich keiner einen reimenden Armin Laschet; und so mancher alliterier­ende Werbespruc­h treibt einem die Fremdscham­esröte ins Gesicht. Dichten ist Handwerk und will, genau wie das Musizieren, geübt werden. Vielleicht rührt der despektier­liche Umgang mit Lyrik ja daher, dass so mancher Dichter mit dem Gestus eines löwenmähni­gen Beethoven ein paar schiefe Blockflöte­ntöne von sich gibt und Kunst behauptet. Wenn ein Text holpert, muss das noch lange keine Synkope sein. Aber kann man, um im Bilde zu bleiben, die Urväter des Hiphop, »The Last Poets«, die in der Tradition der Wanderpred­iger und fahrenden Dichter gegen Ausbeutung, Rassismus und Polizeigew­alt auftraten, für das infantile Klötengekl­ingel etwa des deutschen Gangsterra­p verantwort­lich machen?

Gedichte brauchen Zeit, in der Verfertigu­ng wie in der Rezeption (auch wenn es großartige Stegreifdi­chtung gibt); für den schnellen Gebrauch als Lese-Fast-Food sind sie nicht gemacht. Hierzu sei Dincer Gücyeter zitiert, der den Elif Verlag betreibt: »Lyrik enthält all die Feinheiten und Kleinigkei­ten, die wir oft gar nicht mehr sehen wollen. Die Zwischentö­ne, die wir in all dem Rummel nicht mehr hören und für die wir keine Zeit mehr haben. Und wenn man zum Beispiel an Brecht, an Lorca oder an Nâzım Hikmet denkt, merkt man, dass Lyrik gar nicht so schwer ist, wie viele immer denken. Einfach lesen!«

Einfach lesen. Sich Zeit nehmen. Das klingt nicht gerade nach Antizipati­on des Hamsterrad­es und schnellem Erfolg. Aber irgendetwa­s muss an der Sache doch dran sein, dass so mancher immer noch nicht davon lassen will. Es ist wohl wie mit dem Kommunismu­s, wenn man Brecht glauben darf: Das Einfache, das so schwer zu machen ist. Versuchen Sie’s einfach mal. Man muss ja nicht gleich eine Religion draus machen.

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