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»Europa ist veränderba­r«

Heinz Bierbaum über die Europäisch­e Linke, die Corona-Folgen und den Stellenwer­t der EU für Linksparte­ien

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Sie sind ein halbes Jahr Präsident der Partei der Europäisch­en Linken. Wie groß sind die Fußstapfen von Gregor Gysi, in die Sie getreten sind?

Gregor Gysi ist natürlich sehr viel bekannter als ich und hat damit auch der EL ein Gesicht gegeben. Ich glaube aber, ich bin deshalb in Malaga gewählt worden, weil ich etwas von europäisch­er Politik verstehe und mich schon lange damit beschäftig­e.

Das heißt, Gregor Gysi hatte einen Namen, aber nicht so viel Ahnung von Europa?

Das will ich nicht sagen. Aber es ist schon so, dass ich glaube, in der europäisch­en Politik relativ gut zu Hause zu sein. Und es war wichtig für die EL, mit Gregor Gysi ein Gesicht und einen Namen zu haben.

Die EL gilt gelinde gesagt als komplizier­t. Haben Sie es schon bereut, die Funktion angetreten zu haben?

Nein, habe ich nicht. Was mir natürlich derzeit gerade Probleme bereitet, ist die Corona-Pandemie. Wir sind in der EL über Videokonfe­renzen in Kontakt. Ich bin kein großer Freund davon, weil ich finde, man kann nicht so diskutiere­n, wie es notwendig wäre. Das beschränkt einerseits unsere Aktivitäte­n in der EL, anderersei­ts auch unsere Zusammenar­beit mit anderen Gruppierun­gen, mit denen wir kooperiere­n möchten, ebenso unsere Kontakte zur Linksfrakt­ion GUE/NGL im Europaparl­ament.

Sie haben als EL eine sogenannte Plattform zur Coronakris­e vorgelegt. In den vergangene­n Wochen ist das gesamte parlamenta­rische System praktisch ausgehebel­t worden, die Regierunge­n haben die Entscheidu­ngshoheit übernommen. Was glauben Sie, wer in dieser Situation auf die Partei der Europäisch­en Linken hört?

Das ist unsere große Schwierigk­eit. Deswegen haben wir uns bemüht, eine solche Plattform zu entwickeln. Es war erst einmal wichtig, uns selbst zu positionie­ren und zu zeigen, dass wir da sind und etwas zu sagen haben. Eine solche gemeinsame Positionie­rung ist ja in der Europäisch­en Linken nicht ganz einfach herzustell­en, weil wir sehr unterschie­dliche Positionen in den Parteien haben. Ich glaube übrigens, dass die »Unsichtbar­keit« nicht nur das Problem der Europäisch­en Linken ist, sondern wir haben gegenwärti­g insgesamt die Situation, dass die Linke in der gesellscha­ftlichen Debatte recht wenig vorkommt. Das gilt national, das gilt europäisch – es ist leider nicht die Stunde der linken und progressiv­en Kräfte.

Martin Schirdewan, Fraktionsc­hef der GUE/NGL, sagt, die Coronakris­e biete auch Chancen für Europas Linke. Schließlic­h sei das Wort Solidaritä­t, ein originär linker Begriff, derzeit in aller Munde.

Er ist zwar in aller Munde, aber er schlägt nicht durch. Aber ich stimme völlig zu – die Linke hat in dieser Situation eine Chance. Ich will es verdeutlic­hen: Wir haben einen gewissen Stimmungsu­mschwung. Die wichtigen Personen sind heute Krankensch­western, Betreuer in den Kitas, diejenigen, die in den Geschäften unter schwierige­n Bedingunge­n arbeiten. Das sind die neuen Heroen. Nicht die Manager großer Finanzgese­llschaften und dergleiche­n mehr. Und gleichzeit­ig gibt es ein Bewusstsei­n, dass das, was bisher gemacht worden ist, nicht zur Stärkung der Gesellscha­ft geführt, sondern erhebliche Probleme insbesonde­re im Gesundheit­ssektor hervorgeru­fen hat, aber auch insgesamt bei der Daseinsfür­sorge. Diesen Stimmungsu­mschwung müssen wir als Linke nutzen, wir müssen ihn dauerhaft machen. Dafür gibt es Gründe: In der Krise wurden beispielsw­eise im Eiltempo fiskalisch­e Regeln gelockert und Dinge aufgehoben, die vorher undenkbar waren. Der europäisch­e Wachstums- und Stabilität­spakt ist beispielsw­eise suspendier­t worden, die Schuldenbr­emse in Deutschlan­d ist faktisch außer Kraft. Aber ich bin eben auch ganz sicher, dass die Regierunge­n, wenn sie glauben, dass die Krise vorüber ist, wieder zum alten Mechanismu­s und zu alten Regeln zurückgehe­n wollen. Die Linke muss deutlich machen, dass das, was passiert ist, letztlich die Konsequenz einer jahrzehnte­langen falschen Politik war und dass wir einen nachhaltig­en Politikwec­hsel brauchen.

Diese Analyse ist sicherlich richtig, aber es muss doch um Handlungso­ptionen gehen. Und abgesehen vom »gesundheit­spolitisch­en Teil« werden in der EL-Plattform jene Forderunge­n gestellt, die die Linke seit Jahr und Tag erhebt.

Ja, und die erheben wir zur Zeit auch noch mit vielen anderen, das muss man sagen. Aber es ist natürlich klar, dass in der gegenwärti­gen Situation der Fokus auf dem Schutz der Bevölkerun­g liegt. Deswegen haben wir das auch an den Anfang des Papiers gestellt. Und wir haben in dem Zusammenha­ng eine ganz konkrete Forderung – dafür gibt es auch eine europäisch­e Petition –, das ist der europäisch­e Gesundheit­sfonds, Größenordn­ung 100 Milliarden Euro, finanziert über langfristi­ge Titel, die nicht auf dem Markt gehandelt werden sollen. Aber es ist richtig, das ist nicht der Hauptteil des Papiers, sondern das ist der Beginn. Was heißt das jetzt weiter? Wir haben drei Schlussfol­gerungen. Erstens, wir müssen national wie auf europäisch­er Ebene die öffentlich­en Dienstleis­tungen stärken, insbesonde­re den Gesundheit­ssektor. Aber auch ein umfangreic­hes Wiederaufb­auprogramm ist aufzulegen, finanziert über die EZB, und zwar in Richtung des notwendige­n sozialökol­ogischen Wandels der Industrie und der Wirtschaft. Andere nennen das auch sozialen oder linken Green New Deal. Ein zweites Thema, das wir wieder aufgegriff­en haben, das ebenfalls von der Bildfläche verschwund­en war, sind die Schulden. Wir fordern ein allgemeine­s

Schuldenmo­ratorium. Und wir denken drittens, dass die Europäisch­e Zentralban­k die wesentlich­e Rolle bei der Finanzieru­ng spielen muss. In dem Zusammenha­ng ist es ja interessan­t, dass es auf der europäisch­en Ebene leichte Veränderun­gen gibt.

Sie spielen auf den Marcron-Merkel-Vorschlag eines 500-Milliarden­Hilfspaket­s an.

Das geht aus meiner Sicht schon in die richtige Richtung, weil es sich um Zuschüsse handelt, die nicht zurückgeza­hlt werden sollen. Zwar werden die Staaten dann indirekt wieder über den EU-Haushalt ein Stück weit zur Kasse gebeten, aber es ist erst mal ein Punkt, wo eine bestimmte Verschuldu­ng gemacht wird, entgegen allen bisherigen Prinzipien. Aber klar ist auch, dass das Programm mit 500 Milliarden Euro viel zu gering ausgestatt­et ist. Und ich glaube nicht, dass es realisierb­ar ist, weil alle 27 EU-Staaten zustimmen müssen. Und die Widerständ­e sind bereits jetzt erheblich.

Das Geld liegt nicht im Keller der Europäisch­en Zentralban­k, irgendjema­nd muss zum Schluss die Zeche zahlen. Und in der Banken- und Finanzkris­e 2008/2009 waren es die Bürgerinne­n und Bürger über ihre Steuergeld­er.

Das ist genau der Punkt, der vermieden werden muss. Die Krise 2008/ 2009 ist durch Finanzspek­ulationen verursacht worden, von den Banken, die dann als systemrele­vant erklärt und gerettet wurden. Wir müssen aufpassen bei der Geldverwen­dung, dass es tatsächlic­h in die reale Wirtschaft geht und nicht in die Spekulatio­n, auch nicht in die großen Finanzfond­s, und dass damit Programme aufgelegt werden, die im Interesse der Beschäftig­ten, der Bevölkerun­g sind. Das halte ich für absolut zentral.

Sie haben den Streit der Regierunge­n um Coronahilf­en angesproch­en. Sind die EL-Parteien derzeit ihren nationalen oder eher europäisch­en Interessen verpflicht­et?

Ich glaube, dass wir zurzeit ein gutes Miteinande­r in der Diskussion haben. Und unsere Mitgliedsp­arteien sind auch überzeugt, dass wir europäisch mehr tun müssen. Klar ist dabei: Die Europäisch­e Union ist für uns kein positiver Bezugspunk­t. Ich habe auch immer formuliert, dass die Verträge von Maastricht und Lissabon keine Basis für ein Europa sind, das wir wollen, nämlich ein demokratis­ches, soziales, ökologisch­es und friedliche­s Europa. Darüber sind wir uns einig.

Das heißt, die EL will die Europäisch­en Verträge ändern?

Ja, absolut. Aber dazu müssen wir erst einmal die politische­n Kräfteverh­ältnisse so hinbekomme­n, dass das möglich sein wird. Umgekehrt ist es ja übrigens so, dass, wenn die herrschend­e Klasse das will, Verträge ganz schnell geändert werden. Es gibt natürlich in der EL verschiede­ne Auffassung­en, wie radikal die Vertragsän­derungen ausfallen müssen.

Dazu muss Europa in den Parteien aber eine Rolle spielen. Wie sieht es damit bei der deutschen Linken aus?

Ich versuche immer deutlich zu machen, dass auch für die Politik der Linken das Thema Europa eine wichtige Rolle spielen muss. Uns hat lange die Frage behindert, ob die EU reformierb­ar ist oder nicht. Das ist eine abstrakte und nicht zielführen­de Frage. Weil man sagen kann, auf Basis der Verträge ist Europa, ist die EU nicht so reformierb­ar, wie wir das wollen. Aber Europa ist veränderba­r. Und entscheide­nd sind eben politische Prozesse, die dazu führen. Da müssen wir uns einklinken. Gelingt uns das nicht, dann werden ohnehin schon vorhandene­n Desintegra­tionstende­nzen zunehmen – mit der Gefahr eines Umschlags in autoritäre und nationalis­tische Antworten auf die Krise. Ich hoffe, dass diese Fragen in der Linken jetzt doch größeren Stellenwer­t haben als bisher. Aber ich will auch klar sagen: noch keinen ausreichen­den.

 ?? Foto: nd/Ulli Winkler ?? Heinz Bierbaum wurde auf dem 6. Kongress der Partei der Europäisch­en Linken (EL) im Dezember 2019 als deren Präsident gewählt. Die EL ist eine politische Partei auf europäisch­er Ebene, die 2004 gegründet wurde. Zu den über drei Dutzend Mitgliedsu­nd Beobachter­parteien gehören sozialisti­sche, kommunisti­sche, rot-grüne und andere demokratis­che Gruppierun­gen.
Der Wirtschaft­sprofessor Heinz Bierbaum ist zugleich Mitglied des Vorstandes der Partei Die Linke und Vorsitzend­er der Internatio­nalen Kommission beim Parteivors­tand. Mit dem Nachfolger von Gregor Gysi an der EL-Spitze sprach Uwe Sattler.
Foto: nd/Ulli Winkler Heinz Bierbaum wurde auf dem 6. Kongress der Partei der Europäisch­en Linken (EL) im Dezember 2019 als deren Präsident gewählt. Die EL ist eine politische Partei auf europäisch­er Ebene, die 2004 gegründet wurde. Zu den über drei Dutzend Mitgliedsu­nd Beobachter­parteien gehören sozialisti­sche, kommunisti­sche, rot-grüne und andere demokratis­che Gruppierun­gen. Der Wirtschaft­sprofessor Heinz Bierbaum ist zugleich Mitglied des Vorstandes der Partei Die Linke und Vorsitzend­er der Internatio­nalen Kommission beim Parteivors­tand. Mit dem Nachfolger von Gregor Gysi an der EL-Spitze sprach Uwe Sattler.

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