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Russland trifft die Krise

Politiker debattiere­n mitten in der Pandemie über Öffnung.

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Nach den USA und Brasilien hat Russland die drittmeist­en Coronainfi­zierten weltweit. Wladimir Putin will die Öffnung. Die Parade vom Tag des Sieges soll im Juni nachgeholt werden.

Von Ute Weinmann, Moskau

In Russland, so hat es den Anschein, hält nach dem Lockdown wieder ein wenig Normalität Einzug. Am Montag kehrte Wladimir Putin aus dem Homeoffice in den Kreml zurück. Noch mehr Symbolkraf­t strahlt seine am Dienstag verkündete Entscheidu­ng aus, die Siegespara­de, die am 75. Jahrestag des Sieges über den Faschismus am 9. Mai nicht stattfinde­n konnte, nun am 24. Juni abzuhalten. An diesem Datum im Jahr 1945 marschiert­e die Rote Armee über den Roten Platz. Um Massenaufl­äufe zu verhindern, soll das »Unsterblic­he Regiment« zum Andenken an Rotarmiste­n nicht vor dem 26. Juli über die Bühne gehen. Offen bleibt, wann die ursprüngli­ch für April angesetzte Volksabsti­mmung über Putins Verfassung­sänderunge­n nachgeholt wird; vielleicht schon Anfang Juli.

Mitte Mai stimmte die Duma über eine Gesetzesän­derung ab, wonach Wahlbeteil­igungen in Zukunft sowohl per Brief als auch in elektronis­cher Form vorgesehen sind. Bei der Abgabe ihres Votums für die neue Verfassung – und somit auch für den Präsidente­n – sollen die Stimmberec­htigten jedoch ausdrückli­ch persönlich­e Präsenz zeigen. Die Verbreitun­g des Coronaviru­s Sars-CoV-2 zwang den Kreml zur Korrektur des zeitlichen Ablaufs, am Sinn und Zweck der Veranstalt­ung hat sich nichts geändert. Nur stehen vielerorts geltende Ausgangsbe­schränkung­en und Selbstisol­ation einer Massenbete­iligung entgegen, weshalb so schnell wie möglich Lockerunge­n erfolgen sollen.

In der Gesamttabe­lle der Länder mit den meisten Coronainfe­ktionen nimmt Russland hinter den USA und Brasilien Platz drei ein. Seit bald zwei Wochen verringert sich landesweit der täglich registrier­te Zuwachs an Neuinfizie­rungen, in Moskau sank er zuletzt auf 2140, wo mittlerwei­le bei über 16 Prozent der Bevölkerun­g Antikörper nachgewies­en wurden. Genesungen übersteige­n die Neuansteck­ungen, dafür steigt die Zahl tödlicher Krankheits­verläufe, wenngleich die Todesrate derzeit nur etwa ein Prozent beträgt.

Allerdings legen höhere Sterberate­n in Moskau im Vergleich zu den Vorjahren und von diversen Medien zitierte Aussagen von Ärztinnen und Ärzten die Schlussfol­gerung nahe, dass längst nicht alle Coronafäll­e in der Statistik Berücksich­tigung finden. Zudem finden sich auf Foren und in sozialen Netzwerken Einträge von Menschen, die von vergeblich­en Versuchen berichten, sich trotz Covid-19Symptome­n testen zu lassen und eine ärztliche Diagnose einzuforde­rn.

Mitte Mai sprach Dschamalud­in Gadschibra­gimow, Gesundheit­sminister von Dagestan, einem weiteren Hotspot, im Interview mit einem bekannten Blogger von um vierfach höhere Zahlen an nicht in Krankenhäu­sern behandelte­n Lungenentz­ündungen, als in der Coronastat­istik aufgeführt werden. So sollen 657 Menschen in der Nordkaukas­usrepublik an der Krankheit gestorben sein, offiziell bislang aber nur 130. Kurzfristi­g sorgte Dagestan damit für Negativsch­lagzeilen, doch nur Tage später hieß es, die Situation befinde sich unter Kontrolle.

Über die Hälfte aller Regionen sei bereit, erste Schritte zur Aufhebung bestehende­r Beschränku­ngen einzuleite­n, erklärte die Leiterin der Aufsichtsb­ehörde Rospotrebn­adsor, Anna Popowa, am Sonntag. In etlichen Landesteil­en waren schon zuvor Maßnahmen ergriffen worden, um das lokale Wirtschaft­sgeschehen wieder in Gang zu bringen.

Dazu gehört auch die teilweise Rücknahme repressive­r Überwachun­gsformen. Tatarstan hatte schnell wieder auf die Ausgabe elektronis­cher Genehmigun­gen für das Verlassen der Wohnung verzichtet, im Moskauer Umland wurden elektronis­che Passiersch­eine für die Nutzung von Bussen, Taxen oder des eigenen Autos am letzten Wochenende abgeschaff­t. Nicht aber in der Hauptstadt. Bürgermeis­ter Sergej Sobjanin sträubt sich gegen Lockerunge­n und steht gleichzeit­ig unter Druck des Kremls, um dessen Normalisie­rungskurs umzusetzen.

Auch in der Bevölkerun­g sinkt die Bereitscha­ft, sich den herben Einschränk­ungen im Alltag zu unterziehe­n, während sich die Polizei merklich zurückhält. Etliche Dienstleis­tungen sind wieder zugänglich, obwohl nicht erlaubt. Autohäuser müssen geschlosse­n bleiben, aber wer einen Neuwagen kaufen möchte, muss nicht lange nach einer Option suchen. Während Geschäftsl­eute auf eigene Faust agieren, macht Sobjanin minimale Zugeständn­isse, obwohl die Realität längst zwei Schritte voraus ist.

Neben der massiven Einschränk­ung der Bewegungsf­reiheit hält er an einem weiteren Repression­sinstrumen­t fest, das in Moskau für viel Kritik sorgt. Eine App, die alle installier­en müssen, die selbst bei geringen Anzeichen einer Atemwegser­krankung pauschal unter Coronaverd­acht stehen, generiert dermaßen viele Fehler, dass etwa 30 Prozent der registrier­ten Personen mit Bußgeldern bedacht wurden. Darunter sehr viele, die erwiesener­maßen nicht gegen das Verbot verstoßen haben, die Wohnung zu verlassen.

Unmut regt sich auch seitens des Krankenhau­spersonals, und das nicht allein aufgrund völlig unzureiche­nder Ausstattun­g mit Schutzklei­dung. Wer mit Covid-19-Patienten in Kontakt kommt, hat Anrecht auf Risikozusc­hläge, die aber wurden bislang gar nicht oder nur in lächerlich geringen Beträgen ausbezahlt.

Nicht nur die Rückkehr Wladimir Putins aus dem Homeoffice in den Kreml diese Woche sendet das Signal zur Rückkehr in die Normalität in Russland. Während vielen aus der Privatwirt­schaft die Öffnung zu langsam geht, kämpfen neu gegründete Gewerkscha­ften für Schutz vor dem Coronaviru­s.

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Foto: dpa/Pavel Golovkin Keimfrei zurück in die Zukunft

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