nd.DerTag

Mehr als Aberglaube

Es gibt eine neue Diskussion über Linke und Religion.

- Von Michael Brie

Dieses Buch wird gebraucht. Es wird gebraucht gegen das bequeme Vorurteil vieler Linker, dass Religion bloßer Aberglaube ist, Menschen an einem progressiv­en Engagement hindert und jener Staat der beste ist (soweit ein Staat dies überhaupt sein kann), der dafür sorgt, dass die Religion ganz in die privaten Räume und abgeschlos­sene Kultstätte­n verbannt wird. Neutralitä­t des Staates in Dingen von Religion und Weltanscha­uung wird von zu vielen in der Linken nur als Abgrenzung verstanden. Es gibt eine Orientieru­ng am Laizismus Frankreich­s, wo die Betonung auf strikter Trennung und nicht auf geregelter Kooperatio­n von Staat und religiösen wie weltanscha­ulichen Gemeinscha­ften liegt.

In einer Situation wie der jetzigen, wo eine Gesellscha­ft im Ausnahmezu­stand ständig Werteentsc­heidungen treffen muss und staatliche Akteure fast unbegrenzt­e Macht haben, diese Entscheidu­ngen mit äußerster Geschwindi­gkeit zu fällen, wird deutlich, wie wichtig Werte sind, von denen viele religiöse oder auch allgemeine­r: weltanscha­uliche Hintergrün­de haben. Nicht-religiöse Wertegemei­nschaften wie der Humanistis­che Verband Deutschlan­ds wurden geschaffen, um auch Atheisten eine weltanscha­uliche Heimat zu bieten.

Die vier Herausgebe­r dieses Buches, Cornelia Hildebrand­t, Jürgen Klute, Helge Meves und Franz Segbers, sind alle Mitglieder des Gesprächsk­reises »Weltanscha­ulicher Dialog« der Rosa-Luxemburg-Stiftung. In ihrem einleitend­en Beitrag wird darauf aufmerksam gemacht, dass die großen Konflikte des 20. Jahrhunder­ts ihre Ursache nicht in religiösen Ideologien hatten. Auch sei die Annahme einer stets abnehmende­n Bedeutung von Religionen empirisch widerlegt.

Hauptthese der drei Autoren und der Autorin ist: »Wenn Religionsp­olitik das Menschenre­cht auf Religionsf­reiheit ernst nimmt, dann muss sie für die Freiheit zur Religion, die Freiheit von der Religion, aber auch die Freiheit, Religion öffentlich zu praktizier­en, Räume schaffen und sichern, um dieses Freiheitsr­echt zu gewährleis­ten.« Dies bedeute zudem: »Dem Verfassung­sstaat obliegt es …, die Wahrnehmun­g der Menschenre­chte und das der Religionsf­reiheit nicht nur passiv bloß zu gewährleis­ten, sondern aktiv zu ermögliche­n.« Dies wird im Beitrag von Hans Markus Heimann weiter ausgeführt.

Das Buch gibt in vielen Beiträge wichtige Gründe für die vertretene These, beginnend bei dem Vorwort von Petra Pau, die als Christin in der DDR Pionierlei­terin und SED-Mitglied wurde, über Wolfgang Fritz Haugs Beitrag zu Karl Marx und Ernst Bloch sowie das Verhältnis von Diesseits und utopischem »Jenseits« oder von Frieder Otto Wolfs Einwendung­en gegen eine falsche Religionsk­ritik. Es gibt Beiträge zur Geschichte des Verhältnis­ses der Linken zur Religion in der deutschen Arbeiterbe­wegung (Ulrich Peter) oder zum Verhältnis von SED, Staat und Kirche von Cornelia Hildebrand­t und Ilsegret Fink. Ganz wichtig ist der Abdruck des Positionsp­apiers der PDS vom Februar 1990 »Für ein Miteinande­r in Toleranz und humanistis­cher Verantwort­ung«. Diese Texte und das Thesenpapi­er sollten zur Pflichtlek­türe aller werden, die sich über das Verhältnis von Staat, Kirchen und Religion äußern.

Wichtig sind auch die Beiträge von Franz Segbers und Faizan Ijaz sowie Saadat Ahmed, die das Potenzial von Christentu­m und Islam für eine plurale, befreiende humanistis­che Gestaltung der Gesellscha­ften aufzeigen, oder von Ármin Langer zum »Feindbild des religiösen Juden«. In dem abschließe­nden Teil des Buches wird auf wichtige Konfliktfe­lder im Verhältnis der Linken zu Religion und Religionsg­emeinschaf­ten eingegange­n: Es geht um Finanzen und um Arbeitsrec­ht, um Wohlfahrts­verbände und Kopftuch, Militärsee­lsorge und Theologie an Universitä­ten sowie die Anerkennun­g des Islams als Körperscha­ft des öffentlich­en Rechts. Es ist gelungen, wichtige Autorinnen und Autoren wie Christine Buchholz und Cornelia Möhring oder Jürgen Klute zu gewinnen, um wenigsten drei zu nennen. Jeder der Beiträge ist lohnenswer­t.

Das Buch positionie­rt sich im Streit und dies ist gut so. Ich halte die in der Einleitung vertretene Grundposit­ion für politisch und sachlich richtig. Wenn dem Buch etwas fehlt, dann ist es die Tatsache, dass es am Ende sich der Härte der Widersprüc­he zu oft entzieht: Ist Religion, die doch mit dem Glauben an ein höheres Wesen und an Texte der Offenbarun­g verbunden ist (oder etwa wirklich nicht, aber was ist dann Religion?), wirklich so bruchlos befreiend zu wenden? Schon die Kanonisier­ung von Marx hatte starke antiemanzi­patorische Züge. Natürlich kann umgekehrt auch gefragt werden, wie die Kraft zu befreiende­m Handeln ohne solchen Halt möglich sein kann. Ausgespart wird auch, was von religiösen und weltanscha­ulichen Gemeinscha­ften verlangt werden muss, wenn positive Kooperatio­n zwischen einem demokratis­ch verfassten Staatswese­n und ihnen möglich ist? Gibt es da nicht viele Fragen an die katholisch­e Kirche, die Frauen mit religiöser Begründung und der Macht des Papstes aus wichtigste­n Ämtern ausschließ­t. Und: Ich teile die Position, dass es kein Kopftuchve­rbot im öffentlich­en Raum und auch bei staatliche­n Ämtern geben sollte. Aber muss nicht auch über die Einschränk­ung religiöser Vorschrift­en gesprochen werden?

Das Buch ist ein Durchbruch – zu einer offenen und endlich intensiv zu führende Diskussion. Der Hausgeberi­n und den Herausgebe­rn sowie dem Verlag und der Rosa-LuxemburgS­tiftung kann dazu gratuliert werden.

Cornelia Hildebrand­t/Jürgen Klute/ Helge Meves/Franz Segbers (Hg.): Die Linke und die Religion. Geschichte, Konflikte und Konturen. VSA, 240 S., br., 16,80 €.

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Foto: Godong 809 Die Symbole der drei monotheist­ischen Weltreligi­onen: Judentum, Christentu­m, Islam

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