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Corona-Erholung – an der Börse

In den USA drängen Republikan­er trotz hoher Fallzahlen auf Lockerunge­n

- Mwi

Ort. 100 000 Covid-19-Tote gibt es mittlerwei­le in den USA. Trotz fast 40 Millionen Corona-Arbeitslos­en, trotz der Tatsache, dass die Zahl der Infektione­n in rund einem Dutzend Bundesstaa­ten nur ein Plateau erreicht hat und in 17 Staaten weiter steigt: dem US-Aktienmark­t geht es prächtig. Am Mittwoch kletterte der Dow Jones zum zweiten Mal in Folge über die Marke von 25 000 Punkten. Damit hat die US-Börse bereits etwas mehr als die Hälfte der Verluste seit Beginn der Pandemie wettgemach­t. »Unser Kapital wurde nicht vernichtet, unser menschlich­es Kapital ist bereit, die Arbeit wieder aufzunehme­n«, erklärte Kevin Hasset

kurz davor. Der Wirtschaft­sberater des Weißen Hauses fasste so grinsend in einem enthusiast­ischen Fernsehint­erview zu Lockerunge­n der Corona-Einschränk­ungen ungewollt zusammen, was Donald Trump, seine republikan­ischen Parteifreu­nde und viele Wirtschaft­slenker von den abhängig Beschäftig­ten und vom Wert des menschlich­en Lebens halten.

Derweil fordert eine Allianz, die weltweit rund 40 Millionen Menschen vertritt, die im Gesundheit­ssektor arbeiten, angemessen­e Investitio­nen in Pandemievo­rsorge, Gesundheit­sund Umweltschu­tz. Die WHO warnt vor der Möglichkei­t eines »zweiten Höhepunkts in der ersten Welle«, wenn Corona-Einschränk­ungen zu früh aufgehoben würden. Gemeint sind offenbar auch die USA. Bis Anfang Juni werden alle 50 Bundesstaa­ten weitgehend­e Lockerunge­n umgesetzt haben.

Immerhin: In einigen Staaten, darunter das schwer getroffene­n New York, gehen die Fallzahlen zurück. Viele Latinos haben als Arbeiter in »systemrele­vanten« Berufen die Metropole am Laufen gehalten. Sie waren und sind besonders betroffen von der Pandemie. Wir berichten in einer Reportage darüber, wie sie Covid-19 kreativ trotzen.

Migranten aus Lateinamer­ika sind in New York von der Covid-19-Epidemie mit am stärksten betroffen. Sie reagieren darauf mit Erfinderge­ist halten die Stadt am Laufen.

Am 1. März wurde im Bundesstaa­t New York der erste Fall von Covid-19 offiziell registrier­t. Einige Epidemielo­gen nehmen an, dass schon vorher das Coronaviru­s in der Stadt New York unter Tausenden zirkuliert­e. Dies ist schwer zu überprüfen.

Besonders hart betroffen von der Corona-Pandemie sind die Latinos. Viele von ihnen stammen aus Mexiko. In der Migrations­geschichte der Stadt sind sie die letzte große Gruppe, die nach New York kam. Hier herrschen das Prinzip des Sich-Hocharbeit­ens und die damit verbundene­n Zwänge. Viele Latinos waren schon vor der Pandemie in schlecht bezahlten Jobs als Arbeiter, Verkäufer und in Dienstleis­tungsbranc­hen aller Art tätig.

In diesen Tagen halten sie trotz der Gefahren für die Gesundheit als unentbehrl­iche »essential workers« die Stadt am Laufen. Sei es beim medizinisc­hen oder sonstigen Personal in den Krankenhäu­sern oder auch als Taxifahrer, Supermarkt­verkäufer oder Fahrradkur­ier. Trotz aktuell mehr als 190 000 bekannten Covid19-Fällen und bereits über 20 000 Todesopfer­n allein in New York City arbeiten diese Latinos weiter.

Ethnien unterschie­dlich betroffen Tests auf Antikörper und Krankenhau­sstatistik­en des Bundesstaa­tes zeigen, dass in den Stadtteile­n Bronx und Brooklyn die Mehrheit der Infizierte­n und wegen Covid-19 Behandelte­n Latinos oder Afroamerik­aner und diese überpropor­tional häufig betroffen sind. Laut einer Analyse der Stadt aus dem April starben daran pro 100 000 Einwohner 22 Latinos sowie 20 Afroamerik­aner – aber nur 10 weiße und 8 asiatischs­tämmige New Yorker. Allerdings basiert die Untersuchu­ng auf unvollstän­digen Daten, weil der ethnische Hintergrun­d nicht immer erfasst wird.

In einzelnen Vierteln der von Armut geprägten Bronx, in Brooklyn und im sehr diversen Queens sind solche Abweichung­en noch weit krasser. Im landesweit­en Vergleich sind die Latinos in New York City mit ihrer für US-amerikanis­che Verhältnis­se eher umfangreic­hen sozialstaa­tlichen und medizinisc­hen Infrastruk­tur etwas weniger häufig betroffen, aber eben immer noch häufiger als weiße Stadtbewoh­ner.

Ein wichtiger Grund dafür ist mehr Kontakt mit möglichen Virusübert­rägern im Arbeitsleb­en. Die New Yorker Zahlen zu Erkrankung­en und Todesfälle­n korrespond­ieren mit denen der Demografie über jene, die in der Millionenm­etropole in »systemrele­vanten« Berufen bei der Post, bei Verkehrsbe­trieben, in Apotheken, als Krankensch­western, Putzfrauen, oder als Handwerker ihr Geld verdienen: Es sind überwiegen­d Latinos und Schwarze.

Manche finden in der Not innovative Wege, mit der Pandemie umzugehen, sich und andere zu schützen. Esteban Estévez ist einer von ihnen. Der aus Mexiko stammende Indigene lebt in der Bronx, stellt Polster her und fühlt sich der Stadt verbunden. »Ich bin 1990 als 16-Jähriger nach New York gekommen«, erzählt er. Auch wenn er mehrere Male nach Mexiko zurückkehr­te: Seine Familie hat ihren Mittelpunk­t in den Vereinigte­n Staaten. Sein Sohn ist 25, seine beiden Töchter sind 20 und 13 Jahre alt.

An Möbeln arbeitet Estévez derzeit nicht. Doch sein Geschäft hat er nicht geschlosse­n. Während immer mehr Informatio­nen zur Übertragun­g der Krankheit bekannt wurden, kam Estévez eine Idee. Für in »systemrele­vanten« Berufen Arbeitende wollte er Schutzausr­üstungen herstellen. Und zwar für diejenigen, die nach Mitarbeite­rn von Krankenhäu­sern dem größten Risiko ausgesetzt sind: Kuriere und Lieferdien­stmitarbei­ter.

Einfacher Schutzhelm

Nun produziert er transparen­te Plastikhel­me, die den Kopf wie eine Blase umschließe­n. Zur Belüftung hat der Helm auf Höhe der Ohren zwei Löcher.

Etwa zehn Minuten dauert die Herstellun­g eines solchen simplen und billigen Schutzes, der vielleicht Leben retten kann. Estévez benutzt einen biegsamen Kunststoff, mit dem er sonst Sofas abdeckt. »Gorritos« nennt er seine Helmkreati­on. Sie soll Tröpfcheni­nfektionen durch das Versprühen von Speichel beim Sprechen verhindern.

Obwohl Estévez dabei zuerst an Kuriere von Lieferdien­sten dachte, waren es dann vor allem Kassierer von Supermärkt­en, die die »Gorritos« bei ihm bestellten. Mit demselben Material hat Estévez auch Schutztren­nwände für Taxis entwickelt, die die Arbeit der Fahrer sicherer machen sollen. Bis elf Uhr abends ist er in diesen Tagen mit dem Nähen solcher Schutzschi­lde beschäftig­t. »Viele Taxifahrer kommen deshalb zu mir. Manche fahren mich auch morgens um sieben Uhr zur Arbeit und abends wieder zurück nach Hause«, erzählt der 49-Jährige.

Derzeit arbeitet Estévez auch deshalb länger als sonst, weil er einen Teil seiner Mitarbeite­r nach Hause geschickt hat. Es sind die älteren, für die Corona ein besonderes Risiko darstellt und die er nicht in Gefahr bringen möchte. Seine Familie sage auch ihm, dass es gefährlich sei, weiterzuar­beiten. »Aber ich muss. Ich habe zwei kleine Geschäfte und muss die Miete für diese Läden und für mein Haus aufbringen.« Dann betont Estévez noch einmal, dass er gebraucht werde. Eine Taxifahrer­in habe ihm Ingwertee vorbeigebr­acht und geraten, gut auf sich zu achten.

Leben mit der Gefahr

In entspreche­nden Berufen weiter zu arbeiten kann für New Yorker tödlich enden. Der Fall Victor Tochimanch­i ist ein Beispiel dafür, wie die mexikanisc­he Community in der Stadt von der Pandemie betroffen ist. Als er am 6. April an Covid-19 starb, war er 54 Jahre alt. Seine Familie konnte ihm nicht einmal Lebwohl sagen. Das letzte Mal, dass seine Schwester Olivia seine Stimme hörte, war Ende Februar. »Wegen der Arbeit haben wir uns nicht oft gesehen. Wir haben immer viel auf Parties rumgewitze­lt, Victor machte gerne Scherze. Die letzten Sprachnach­richten, die er mir geschickt hat, behalte ich als Andenken«, berichtet Olivia mit stockender Stimme.

Ursprüngli­ch kommt die Familie aus dem mexikanisc­hen Bundesstaa­t Puebla. 20 Jahre nach ihrem Umzug nach New York City leben die acht Tochimanch­i-Geschwiste­r heute verstreut auf verschiede­ne Nachbarsch­aften in den zwei Stadtbezir­ken mit dem größten Anteil von Migranten aus Lateinamer­ika: Queens und Brooklyn. Victor hatte auf Märkten für Fisch und Meeresfrüc­hte gearbeitet.

Rund drei Millionen Menschen mit einem migrantisc­hen Hintergrun­d leben in New York City. Sie stellen 44 Prozent der berufstäti­gen Bevölkerun­g. Für die Wirtschaft sind sie damit unentbehrl­ich, Bürgermeis­ter Bill de Blasio nennt sie »das Herz der Stadt«. Ein großer Teil von ihnen kommt aus Mexiko. Laut Schätzunge­n besitzen rund 700 000 in dieser Community keine Papiere.

Victors Schwester Olivia arbeitet weiter als Putzfrau, auch wenn es jetzt in der Coronakris­e weniger Aufträge gibt. Ihr Bruder, sagt sie, sei erst zum Krankenhau­s gegangen, als er bereits schwere Atemproble­me hatte. Nur seinem Bruder J. gab er Bescheid. J. möchte anonym bleiben.

»Mein Bruder hatte Angst, konnte nicht mehr richtig atmen, war nah am Ersticken. Das hat er mir in Textnachri­chten mitgeteilt«, berichtet J. Erst auf sein Drängen hin rief Victor einen Krankenwag­en. Einen Tag vor seinem Tod wurde er zunächst in das nahe gelegene Northwell Healthcare Center Krankenhau­s im Stadtteil Flushing in Queens eingeliefe­rt. Einige Stunden später verlegte man ihn in ein Krankenhau­s auf Long Island. Das hing mit der Neuordnung der Gesundheit­sversorgun­g durch die Behörden zusammen. Patienten wurden auf Häuser mit freien Kapazitäte­n verteilt.

Per SMS teilte Victor seinem Bruder mit, dass er nicht mehr sprechen könne. Kurze Zeit später musste er künstlich beatmet werden. »Ein Arzt rief uns über sein Handy an und sagte uns, dass Victor zwei Herzinfark­te erlitten habe. Er bat uns um die Erlaubnis,

die lebenserha­ltenden Maßnahmen einzustell­en, um ein unnötiges Leiden zu vermeiden«, erinnert sich Olivia.

Ungleiche Bedingunge­n

Marco Castillo engagiert sich beim Transnatio­nal Peoples' Network. Die Organisati­on setzt sich für mexikanisc­he Migranten ein. Viele von ihnen würden es vermeiden, bei Ärzten Hilfe zu suchen, berichtet Castillo. »Sie haben keinen Zugang zum regulären Gesundheit­ssystem, versuchen sich anderweiti­g zu versorgen.« Die Gründe seien hohe Kosten und die Angst vor Abschiebun­g bei Behördenko­ntakt. Das führt dazu, dass Latinos wie Victor Tochimanch­i erst dann ins Krankenhau­s kommen, wenn es schon zu spät ist. Solange diese Ungleichhe­it nicht beseitigt werde, würden New Yorks Latinos unter der Coronaviru­s-Pandemie weiter besonders leiden. Auch eine »neue Normalität« nach ersten Lockerunge­n werde für die Community von Unsicherhe­it geprägt sein, schätzt Aktivist Castillo ein.

Doch es gibt auch selbstbewu­sstere Forderunge­n der Menschen, deren Arbeit jetzt besonders gebraucht wird, nach Hilfe. Menschen wie Esteban Estévez, die es zunehmend wütend macht, zwischen »Weiterarbe­iten, bis man krank wird«, für Essen und Miete oder hohen Schulden wählen zu müssen.

Vielleicht waren die Bilder von der Tragödie in den überfüllte­n New Yorker Krankenhäu­sern der Grund dafür, dass es in der Millionenm­etropole keine nennenswer­ten Demonstrat­ionen für Lockerunge­n gab. Stattdesse­n viele für eine Anerkennun­g der Arbeit der Tausenden »Systemrele­vanten« und mit der Forderung, diese finanziell zu unterstütz­en.

Bei der Ankündigun­g gradueller Lockerunge­n ab dem 15. Mai aufgrund sinkender Covid-Zahlen sagte New Yorks Gouverneur Andrew Cuomo, dass er zwei Alpträume habe. Der eine sei eine Nichtbefol­gung der Distanzreg­eln. Der andere? Dass eines Tages die migrantisc­hen Beschäftig­ten nicht mehr ihre Arbeit machen.

Viele Latinos waren schon vor der Pandemie in schlecht bezahlten Jobs als Arbeiter, Verkäufer und in Dienstleis­tungsbranc­hen aller Art tätig.

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Foto: Reuters/Andrew Kelly Erschöpfte­r Mitarbeite­r eines Krankenhau­ses in Brooklyn, New York
 ?? Foto: Heriberto Pedes ?? Margarita Pérez lebt seit zwölf Jahren in New York und arbeitet als Kassiereri­n. Ihre Familie in Mexiko hat Angst um sie, doch sie arbeitet weiter in der Hoffnung nicht krank zu werden.
Foto: Heriberto Pedes Margarita Pérez lebt seit zwölf Jahren in New York und arbeitet als Kassiereri­n. Ihre Familie in Mexiko hat Angst um sie, doch sie arbeitet weiter in der Hoffnung nicht krank zu werden.

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