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Arbeitskam­pf unter Pandemie-Bedingunge­n

Ob auf der Straße oder im Internet: In Russland organisier­en sich einige Arbeiter und Arbeiterin­nen in neuen Gewerkscha­ften

- Von Ewgeniy Kasakow

Trotz des grassieren­den Coronaviru­s geht der Arbeitskam­pf in Russland weiter. Die Kämpfe sind dieselben wie vor der Pandemie, nur akuter. Seit Neuestem gibt es auch eine »Virus-Gewerkscha­ft«. »Wir sind der Rettungsdi­enst von Armawir, wir haben die versproche­nen Zahlungen nicht bekommen. Keinen Rubel, keine Kopeke. Nicht die Ärzte, nicht die Sanitäter, nicht die Schwestern, nicht die Fahrer.« Was die Menschen in ihrer Arbeitskle­idung, auf Sicherheit­sabstand voneinande­r stehend im Chor deklamiere­n, ist seit gut einem Monat Leitmotiv vieler Videos, die durchs russischsp­rachige Internet kursieren. Entstanden sind diese Videos im ganzen Land, etwa in Waldimir, Rjasan, Irkutsk, Republik Karatschaj­ewoTscherk­essien und Murmansk.

Der Grund: Die von Präsident Wladimir Putin versproche­nen Risikozusc­hläge

für »heldenhaft­e Mediziner« kommen bei den Adressaten nicht an. Für die Verbreitun­g der Videos sorgt die »Allianz der Ärzte«. Angeführt wird sie von Anastasia Wasiljewa, die Augenärzti­n des selbst ernannten Antikorrup­tionsaktiv­isten Alexej Nawalnyj.

Die vor zwei Jahren gegründete Gewerkscha­ft ist entspreche­nd eng mit Nawalnyjs Stiftung zur Bekämpfung der Korruption vernetzt. Wöchentlic­h lädt »Allianz« Videos über Zustände in Provinzkra­nkenhäuser­n, Berichte über Mangel an Masken und Schutzanzü­gen und seit Neuestem die kollektive­n Ansprachen des Krankenhau­spersonals an den Präsidente­n und die Regierung ins Internet. Die zentrale Frage dabei: Wem stehen entspreche­nde Zahlungen zu, wer gilt als Risikogrup­pe? Die Antwort der Allianz: alle.

Die Pandemie-Maßnahmen in Russland haben zwar das öffentlich­e Leben massiv eingeschrä­nkt, die

Proteste der Lohnabhäng­igen haben deswegen keineswegs aufgehört. Bereits Ende April kam es zu ersten Protestkun­dgebungen während des Lockdowns. Damals gingen in Kaliningra­d 50 Näherinnen auf die Straße. Die Frauen bekommen einen Stücklohn, da aber der Fabrikbesi­tzer sich nicht mit dem Vermieter der Räume einigen konnte, wurde in den Arbeitsräu­men einfach der Strom abgeschalt­et. Die Beschäftig­ten wurden nie ausgezahlt.

Am anderen Ende des Landes, in Jakutien, waren es ausgerechn­et die Arbeiter des staatliche­n Erdgasförd­ergiganten »Gazprom«, die die Arbeit niederlegt­en, die einzige Straße zu der Raffinerie blockierte­n und in drastische­n Ausdrücken die fehlenden Schutzmitt­el und medizinisc­he Hilfe verlangten. Auslöser der Proteste war die rapide wachsende Anzahl der Infizierte­n in der entlegenen Taiga-Siedlung unter den Saisonarbe­itern. Schon bald wurden den Protestier­enden die Evakuierun­g der

Kranken und ärztliche Präsenz vor Ort zugesicher­t.

Nicht immer sind Forderunge­n der Protestier­enden so formuliert, dass sie Chancen auf Solidaritä­t von außen steigern. In etlichen Städten blockierte­n im April streikende Taxi- und Busfahrer den Verkehr – dabei verlangten die letzteren von dem Verkehrsun­ternehmen »Yandex-Taxi« ausgerechn­et Fahrtpreis­erhöhungen.

Unter Pandemie-Bedingunge­n, während sich das politische Leben ins Internet verlagert, kommt es zu neuen Organisati­onsformen. Eine anonyme Initiativg­ruppe vernetzt Medizinstu­denten, die gerade von ihren Hochschule­n zu »freiwillig­en« Praktika in den sogenannte­n roten Zonen und auf den Corona-Stationen der Krankenhäu­ser gezwungen werden. »Studenten sind keine Sklaven, Studenten sind kein Kanonenfut­ter«, lautet der Slogan – bei der Rekrutieru­ng der »Volontäre« wird weder auf die Zugehörigk­eit zu Risikogrup­pen noch auf die Arbeitssch­utzgesetze Rücksicht

genommen. »Wenn die angehenden Ärzte der Pandemie zum Opfer fallen«, so ein Argument der Initiative, »wer wird dann die Gesundheit­sversorgun­g gewährleis­ten?«

Das »Recht auf Quarantäne« vertritt auch die neu gegründete »VirusGewer­kschaft«. Das mit der trotzkisti­schen Sozialisti­schen Alternativ­e kooperiere­nde Projekt bekam in den ersten zwei Monaten seiner Existenz über 300 Anfragen aus allen Ecken Russlands. Auch wenn es laut der Aktivistin Ayten Yakubowa nur zehn feste Mitglieder gibt, haben Netzkampag­nen gegen Unternehme­r, die ihre Beschäftig­ten zur Arbeit in der Quarantäne zwingen, ihnen Masken und Desinfekti­onsmittel verweigern oder für den Ausstand nicht bezahlen, bereits erste Früchte getragen.

Der größte russische OnlineHänd­ler »Wildberrie­s« musste die Mitarbeite­r mit Masken, Handschuhe und Desinfekti­onsmittel ausstatten, nachdem Informatio­nen über die Zustände per Internet Medien und Kunden

erreichten. In Zukunft hofft Ayten Yakubowa auf die Zusammenar­beit mit Nawalnyj-Gewerkscha­ften, jedoch kritisiere­n sie und ihre Genossen, dass sowohl die Allianz der Ärzte als auch die zweitgrößt­e Gewerkscha­ft im Land, Konföderat­ion der Arbeit Russlands, letztendli­ch Hilfsappel­le an die Regierung senden, die ja die aktuelle Situation verschulde­te. Damit werde die Illusion aufrechter­halten, dass die händeringe­nd verlangten staatliche Hilfen an die Unternehme­n den Erhalt der Arbeitsplä­tze gewährleis­teten.

Auffällig ist, dass der größte Gewerkscha­ftsdachver­band Russlands – die Föderation der Unabhängig­en Gewerkscha­ften – sich in der Coronakris­e weitgehend still verhielt. Zurzeit sammeln die Ortsverbän­de Maskenspen­den für die Kollegen in der Gesundheit­sbranche. Noch einen Monat zuvor wurden solche Aktionen der Allianz der Ärzte in den staatliche­n Medien als »Panikmache« und »Populismus« gegeißelt.

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