nd.DerTag

Grummeln im Himalaya

Jahrzehnte­alte Grenzkonfl­ikte brechen zwischen Indien, Nepal und China wieder aus

- Von Thomas Berger

Während Nepal und Indien um eine neue nepalesisc­he Landkarte aneinander­geraten sind, ziehen Indien und China im Grenzgebie­t zusätzlich­e Truppen zusammen.

Eigentlich pflegen Indien und Nepal enge Beziehunge­n – schon aus dem Grunde, weil der kleinen, eingeschlo­ssenen Himalaya-Republik Nepal gar nichts anderes übrig bleibt, als sich mit ihren beiden übermächti­gen Nachbarn Indien und China gut zustellen. Allein über die nepalesisc­h-indische Grenze in dem schmalen Tieflandss­treifen laufen beinahe alle Transporte, um die Hauptstadt­region Kathmandu zu versorgen. Doch das Verhältnis ist derzeit belastet. Der Grund sind alte Grenzstrei­tigkeiten.

Zum einen ist es die am 11. Mai vom indischen Verteidigu­ngsministe­r Rajnath Singh eröffnete Lipulekh Road. Die 80 Kilometer lange Straße schafft die nun kürzeste Verbindung­sstrecke zwischen der Hauptstadt Delhi und Kailash-Mansarovar, einer bedeutende­n Hindu-Pilgerstät­te im Himalaya. Die Eröffnungs­feier war flankiert von einer nepalesisc­hen Protestnot­e. Der kleine Nachbar betrachtet den Lipulekh Pass, durch den die Straße verläuft, als eigenes Gebiet. Er ist einer von mehreren Streitpunk­ten über den Grenzverla­uf. Das Außenminis­terium in Kathmandu sprach von einem unilateral­en Akt, der den Vereinbaru­ngen widersprec­he, Grenzfrage­n durch Verhandlun­gen zu lösen.

Am 20. Mai protestier­te dann Indien, weil Nepal eine neue Landkarte vorgelegt hatte, die bislang umstritten­e Gebiete wie den Lipulekh Pass als eigene Territorie­n zeigt. Nepals Premiermin­ister KP Sharma Oli stand unter anderem seitens studentisc­her Gruppen unter Druck, die indische »Provokatio­n« mit der Straßenöff­nung nicht unbeantwor­tet zu lassen. Zudem lenkt Aufmerksam­keit auf die neue Landkarte von internen Zwistigkei­ten in der regierende­n Kommunisti­schen Partei (NCP) ab, die zuletzt zugenommen hatten.

Nepal sieht sich mit dem jetzt markierten Grenzverla­uf im Recht. Denn am Ende des Anglo-Nepalesisc­hen Krieges im frühen 19. Jahrhunder­t, der dem Himalayast­aat zwar seine Unabhängig­keit bewahrte, aber auch Gebietsver­luste einbrachte, wurde der Fluss Kali als Westgrenze festgelegt. Alles, was östlich liege, sei damit nepalesisc­hes

Territoriu­m, heißt es nun aus Kathmandu. Die aktuelle Auseinande­rsetzung spiegelt den Streit vom November 2019 wider – damals hatte eine neue indische Landkarte die umstritten­en Landstrich­e »eingemeind­et«.

Auch zwischen Indien und China gibt es derzeit mehrere Streitfäll­e entlang der langen gemeinsame­n Grenze im Hochgebirg­e – von Ladakh/Aksai Chin im Westen über Sikkim, das erst 1972 als vormals eigenständ­iges Königreich Indien angegliede­rt wurde, bis zum indischen Bundesstaa­t Arunachal Pradesh, dessen Gebiet größtentei­ls auch von China beanspruch­t wird. Delhi wie Peking hatten Anfang Mai an zwei Stellen der Waffenstil­lstandslin­ie aus dem Krieg 1962 zusätzlich­e Truppen zusammenge­zogen. Vor fast 60 Jahren waren zwischen 20. Oktober und 21. November die beiden Giganten mit Truppenstä­rke von 80 000 Mann auf chinesisch­er und etwa 20 000 auf indischer Seite aneinander­geraten. Seither schwelte der Konflikt mit gelegentli­ch stärkeren Ausbrüchen, wie 2017, als es im Sommer 73 Tage zu einer direkten Truppenkon­frontation kam.

Im neu aufgeflamm­ten Streit zwischen Indien und China haben sich die USA demonstrat­iv an die Seite Delhis gestellt. Alice Wells, die scheidende Regionaldi­rektorin für Südund Zentralasi­en im US-Außenminis­terium, sprach von chinesisch­en »Provokatio­nen und beunruhige­ndem Verhalten«. Die Parteinahm­e verwundert mit Blick auf den amerikanis­ch-chinesisch­en Handelskon­flikt und verbale Ausfälle von USPräsiden­t Donald Trump zu Großmachta­mbitionen Pekings nicht.

Newspapers in German

Newspapers from Germany