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Zu zwanzigst zusammenge­pfercht

Vor allem für vietnamesi­sche Wanderarbe­iter ist Wohnraum Mangelware

- Von Marina Mai

Die Regierung Vietnams tut sich schwer, dem rasant steigenden Bedarf an sozialen Wohnungen entgegenzu­kommen.

Knapp 21 Quadratmet­er Wohnraum entfallen laut amtlicher Statistik auf einen durchschni­ttlichen Vietnamese­n. Vergleicht man das mit der Zahl von 1990, wo es lediglich sechs Quadratmet­er waren, ist das ein beachtlich­er Fortschrit­t. Und dennoch gehört Wohnraum zu dem, was in Vietnam am dringendst­en fehlt.

Dabei sind die Unterschie­de innerhalb der vietnamesi­schen Gesellscha­ft beachtlich. Die städtische Mittelschi­cht, deren Angehörige im Nachkriegs­vietnam selbst noch bescheiden­e Bambushütt­en mit drei Zimmerchen für zehn bis zwölf Personen kennengele­rnt haben, wohnt heute recht geräumig. Wanderarbe­iter in den Industrieg­ürteln der großen Städte hingegen hausen häufig in Massenschl­afsälen. Die Wanderarbe­iter stammen aus dem von Armut und Klimawande­l geprägten Zentralvie­tnam. Die Qualität dieser Schlafsäle, in denen zwischen vier und 20 Personen schlafen müssen, sei unterschie­dlich, weiß Erwin Schweisshe­lm, langjährig­er Leiter des Hanoier Büros der SPD-nahen Friedrich-Ebert-Stiftung. Als Ausländer bekam er die Vorzeigeun­terkünfte gezeigt. Die waren sauber, hatten Fernseher, Gemeinscha­ftsbäder und Küchen.

Die Zahl der von prekären Wohnverhäl­tnissen Betroffene­n steigt, denn immer mehr Vietnamese­n wandern auf der Suche nach Arbeit in die Industrieg­ürtel der Großstädte. Lebten 1999 nur 21 Prozent der Vietnamese­n in einer Stadt, sind es 2020 bereits 45 Prozent. Weil öffentlich­er Nahverkehr fehlt, muss, wer in den Industrieg­ürteln arbeitet, dort auch wohnen. Genau dort werden also preiswerte Wohnungen in großer Zahl gebraucht. Und zwar Mietwohnun­gen, die in Vietnam eigentlich keine Tradition haben, denn traditione­ll macht Wohneigent­um den größten Teil des Immobilien­marktes aus. Aber wer aus einem Dorf in einen Industrieg­ürtel kommt, sieht das nur als Überbrücku­ng für wenige Monate oder Jahre und würde sich kein Wohneigent­um dort zulegen, selbst wenn er das mit Krediten finanziere­n könnte.

2014 wurde in Vietnam erstmals ein Wohnungsge­setz beschlosse­n, das so etwas wie sozialen Wohnungsba­u vorsah. Es funktionie­rte aber nur in wenigen Modellproj­ekten und selbst die entstanden weniger in den Großstädte­n für Arbeiter und Studenten, wie die Regierung es beabsichti­gt hatte, sondern an der Küste für umgesiedel­te Hochwasser­opfer. Von den 2014 geschaffen­en 92 Millionen Quadratmet­ern Wohnfläche entstanden nur 800 000 Quadratmet­er im sozialen Wohnungsba­u. Bauherren konnten ihr Geld anderswo gewinnbrin­gender anlegen und so etwas wie Werkswohnu­ngen lohnt sich nicht in einem Land, in dem Firmen jederzeit genug billige Arbeitskrä­fte finden.

Eine Alternativ­e sah die Regierung darin, die Gewerkscha­ften zu verpflicht­en, »mit ihren reichlich überschüss­igen Geldern sozialen Wohnungsba­u für Beschäftig­te zu betreiben und auch Kindergärt­en zu bauen«, sagt Erwin Schweisshe­lm, der bis 2018 in Hanoi das Büro der Friedrich-Ebert-Stiftung leitete. Gemeint sind Familienwo­hnungen zu verträglic­hen Preisen. Damit sollte die soziale Infrastruk­tur näher an die Industriez­onen heranrücke­n.

Aus europäisch­er Sicht erstaunt sicher, dass der Staat Gewerkscha­ften zu etwas verpflicht­en kann. Aber in Vietnam sind Funktionär­e des Gewerkscha­ftsbundes VCGL quasi Staatsange­stellte. Die Gewerkscha­ften finanziere­n sich über eine gesetzlich­e Abgabe von Firmen, in denen eine Betriebsge­werkschaft­sgruppe besteht, an den Staat. Gewerkscha­ften können nicht frei über ihre Mittel verfügen. Der VCGL mit seinen zehn Millionen Mitglieder­n organisier­t keine Streiks und führt keine Tarifverha­ndlungen.

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