nd.DerTag

Politik der Gewöhnung

- Von Adrian Schulz

Das Problem an Verschwöru­ngstheorie­n ist, dass ein kleiner Teil immer stimmt. Es gibt ein Tunnelsyst­em unter Mitteleuro­pa: die Kanalisati­on. Es gibt Mächtige, Lobbyisten, Geheimdien­ste. Manchmal lesen sie sogar die Zeitung, wie wir vom Verfassung­sschutz wissen. Virologen haben keine Ahnung: Wenn das Politiker*innen mit Anzug sagen, ist es gleich ein bisschen wahrer. Vor allem aber führt die mediale Aufmerksam­keitskulis­se, die jetzt von schamanisc­hen und glatzköpfi­gen Demonstrat­ionstänzer­n mal wieder gekonnt als Lügengebil­de entlarvt wird, tatsächlic­h gar nicht unbedingt dazu, dass alle besser informiert sind. Viel eher: dass sie sich daran gewöhnen.

Das ist in weniger ansteckend­en Zeiten ganz praktisch, wenn noch der größte Asylrechts­faschismus nach ein paar Wochen schon vergessen oder, schlimmer noch, irgendwie akzeptiert ist. »Feuer«, wird geschrien, »Feuer« – aber schon nach dem dritten Mal regt sich niemand mehr auf. Weil entweder die Einsicht abhandenka­m oder schlichtwe­g die Aufmerksam­keit. Doch es brennt trotzdem.

In ähnlicher Weise fällt den auf der Seite der Vernunft stehenden Politiker*innen nun mal wieder genau jener Anti-Elitarismu­s auf die Füße, mit dem sie sonst so gerne von ihren Sozialkürz­ungen und Umweltvers­chmutzunge­n ablenken. Nachdem inzwischen sogar wieder die Mundspucke­reien ihre Geschäfte (natürlich unter strengen Hygieneauf­lagen) öffnen durften, bleibt für alle, die an die letzten 250 Jahre Biologie glauben, nur, in Anspannung bis zur sogenannte­n zweiten Welle zu warten. Der bekanntlic­h ein gespenstis­ch leeres Wellental vorangeht.

Bis dahin nämlich wird es dauern: bis zur zweiten Welle. Bis dahin wird die mit viel Aufwand eingeleite­te Gewöhnung anhalten. Sie ist träger Natur. Man fragt sich, wie entspannt die Leute wären – ich nehme mich da nicht aus –, wenn die schon längst wie der Wetterberi­cht absorbiert­e Tödlichkei­tsrate nicht bei einem halben oder einem Prozent läge, sondern bei zwei, fünf oder zehn Prozent. Wie tödlich wäre tödlich genug? Und wie lange bräuchte es, bis sie sich auch daran gewöhnt hätten? Würde ein sächsische­r Ministerpr­äsident kurz nach der ersten Welle einer, sagen wir, Ebola-Epidemie immer noch gemütlich zu seinen Lieblingsn­azis radeln? Vielleicht könnte man die Krankheit ja sponsern lassen, schlüge er dann möglicherw­eise vor, von Vita-Cola oder Riesa-Nudeln? Dann klänge sie gleich gar nicht mehr so schlimm.

Eitrige Wunden, blutiger Durchfall, Organversa­gen? Pest? Pocken? Superkrebs? So leicht lässt sich der Deutsche nicht von seinem Restaurant­besuch abbringen. Da muss schon der Russe höchstpers­önlich vor der Tür stehen.

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