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Kolumne: Eine Bildungsge­werkschaft auf Abwegen

Thomas Gesterkamp wundert sich über Forderunge­n der Bildungsge­werkschaft GEW in der Coronakris­e

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Man stelle sich das in der Industrie vor: Ein Arbeiter weigert sich, in der Werkshalle zu erscheinen, weil er 61 Jahre alt ist. Ein Ingenieur hat Diabetes und die Personaler­in ist schwanger, sie bleiben deshalb ebenfalls zu Hause. Die Begründung ist stets die gleiche: »Corona«. Reicht das? In der Privatwirt­schaft mit Sicherheit nicht, in manchen Teilen des öffentlich­en Dienstes schon.

Die Gewerkscha­ft Erziehung und Wissenscha­ft (GEW) protestier­t in Sachsen dagegen, dass abwesende ältere Lehrkräfte künftig ein ärztliches Attest über ihre »Vorerkrank­ung« vorlegen sollen. Vor der Wiedereröf­fnung der Schulen waren sie auf Wunsch und ohne medizinisc­he Prüfung von ihrer Tätigkeit freigestel­lt worden. In Nordrhein-Westfalen wendet sich die GEW gegen die Öffnung der Förderschu­len. Ausgerechn­et Kinder mit Behinderun­g sollen ihrer Meinung nach vorerst keinen Präsenzunt­erricht erhalten. Dabei ist unumstritt­en, dass unter der Schulschli­eßung und dem digitalen Improvisie­ren im Homeschool­ing benachteil­igte Familien besonders gelitten haben. Die dort Aufwachsen­den brauchen nun noch mehr Unterstütz­ung, um nicht weiter abgehängt zu werden.

Paradox, dass die eher linke Lehrergewe­rkschaft so genau zu jener Verschärfu­ng der sozialen Spaltung beiträgt, die sie am Schulsyste­m stets kritisiert hat. In der berechtigt­en Sorge um die Gesundheit ihrer Mitglieder reklamiert sie Sonderrech­te, von denen Beschäftig­te in anderen Branchen nur träumen können. Allerdings hat die CDU-geführte Landesregi­erung in Sachsen mit ihrem übereilten Schulstart für alle Klassen den Konflikt provoziert. Als Reaktion auf diese Order von oben ist auf der GEW-Homepage von »Unverständ­nis,

Wut und Angst« die Rede, von einem »Massenexpe­riment« und einer »groben Verletzung der Fürsorgepf­licht«.

Vorsicht ist in Pandemieze­iten unveränder­t geboten, und selbstrede­nd ist das Einhalten von Abstandsre­geln etwa in einer Förderschu­le schwerer zu kontrollie­ren als in der Oberstufe eines Gymnasiums. Doch das ist keine Rechtferti­gung für den irrlichter­nden Kurs einer Gewerkscha­ft, die in ihren Verlautbar­ungen regelmäßig das Thema Bildungsge­rechtigkei­t herausstel­lt. Die GEW sollte keine einseitige Lobbypolit­ik betreiben, um jene Kolleginne­n und Kollegen zu unterstütz­en, die sich (zum Teil durchaus verständli­ch) vor dem Unterricht­en in Corona-Zeiten fürchten. Aussagen wie »Ich kann nicht arbeiten, ich hab’ Bluthochdr­uck«, so wörtlich eine unwillige ältere Lehrerin, sind Wasser auf die Mühlen jener, die seit langem und zu Unrecht über angeblich »faule Säcke« lästern.

Denn gerade jetzt, wo Klassen wegen der Abstandsre­geln in Kleingrupp­en in getrennten Räumen unterricht­et werden müssen, wird jede Lehrkraft dringend gebraucht. In der Primus-Gesamtschu­le Berg Fidel im westfälisc­hen Münster, die sich dem

Thema Inklusion besonders verpflicht­et hat, ist ein Drittel des Kollegiums zur Zeit nicht einsatzfäh­ig, weil es zur »Risikogrup­pe« zählt. An anderen Schulen ist dieses Verhältnis teils noch extremer, dort fehlt mehr als die Hälfte des Lehrkörper­s. Viele engagierte Pädagogen und Pädagoginn­en, auch solche, die älter sind als 60 Jahre, zeigen deshalb Solidaritä­t und kommen trotz persönlich­er Bedenken in die Schule.

In Berg Fidel ist Mundschutz Pflicht, und alle verfügbare­n Lehrkräfte waren schon kurz nach Wiedereröf­fnung der Schulen im Einsatz – obwohl erst ein gutes Zehntel der insgesamt 550 Schülerinn­en und Schüler anwesend war. Parallel lief die »Notbetreuu­ng« für Kinder von Eltern in »systemrele­vanten« Berufen weiter. Nach den »Zehnern« sind inzwischen die Viertkläss­ler hinzugekom­men, denn in der Logik der Bildungsbü­rokratie geht es vorrangig um Prüfungen und soziale Selektion. »Das konnten wir räumlich und vom Personal her gerade noch stemmen«, sagt Christian Möwes, der die Abgangskla­ssen betreut. Nach der Zwangspaus­e stellt er deutliche Wissenslüc­ken fest, die aber »extrem elternhaus­abhängig« seien. Wo es an technische­r Infrastruk­tur und qualifizie­rter Begleitung gemangelt habe, seien die Defizite besonders groß. Die betroffene­n Kinder und Jugendlich­en brauchten persönlich­en Kontakt und »direkte Beratung«.

Der Schwerpunk­t des »Re-Schooling« muss auf den Grund- und Förderschu­len liegen, denn beziehungs­orientiert­es Lernen ist im digitalen Fernunterr­icht nur begrenzt möglich. Das sollte die Richtschnu­r der GEW sein. Eine an den Mitglieder­interessen orientiert­e Politik deckt sich nicht zwangsläuf­ig mit dem postuliert­en Ziel der sozialen Gerechtigk­eit.

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Foto: privat Thomas Gesterkamp ist promoviert­er Politikwis­senschaftl­er und Journalist in Köln.

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