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Der Wert der Wertschätz­ung

Verdi-Chef Frank Werneke über Wertschätz­ung und niedrige Gehälter, Streiks in der Altenpfleg­e, Staatsvers­chuldung und Vermögensa­bgabe

- Interview: Ines Wallrodt

Beschäftig­te in Kliniken oder Altenheime­n leisten wichtige Arbeit. Das ist vor allem dann zu spüren, wenn sie streiken – oder in Zeiten einer Pandemie. Pflegenden, ebenso wie Einzelhand­elsbeschäf­tigten, wurde in den vergangene­n Wochen von allen Seiten Anerkennun­g gezollt. Hilft das der Gewerkscha­ft Verdi, bessere Arbeitsbed­ingungen für sie durchzuset­zen? nd-Redakteuri­n Ines Wallrodt hat bei Verdi-Chef Frank Werneke nachgefrag­t und wollte auch wissen, was er von der Abwrackprä­mie und einer Vermögensa­bgabe hält. Wie wichtig Anerkennun­g für Menschen ist, und zwar nicht nur finanziell­e, zeigen Interviews mit prekär Beschäftig­ten, die von den Soziologin­nen Christine Wimbauer und Mona Motakef ausgewerte­t wurden.

Alle reden jetzt von der Wertschätz­ung von Einzelhand­elsbeschäf­tigten, Pflegerinn­en und Erzieherin­nen. Hilft das Gewerkscha­ften, bessere Arbeitsbed­ingungen durchzuset­zen?

Ich will mich gerne von etwas anderem überzeugen lassen, vielleicht bin ich zu pessimisti­sch: Aber meine Vermutung ist, dass all das, was jetzt im Brennglas ist – die Finanzieru­ng des Krankenhau­ssektors, die Arbeitssit­uation in der Altenpfleg­e, die tariflosen Unternehme­n im Einzelhand­el, Minijobber­innen und Minijobber, die jetzt ohne Absicherun­g dastehen, genauso wie Solo-Selbststän­dige mit geringen Einkommen – sehr schnell wieder in Vergessenh­eit gerät. Im Übrigen kippt dieses Gefühl der Wertschätz­ung bei den Beschäftig­ten auch gerade.

Weil es zum Beispiel in der Altenpfleg­e eine Hängeparti­e um die Finanzieru­ng der Sonderpräm­ie für die besonderen Belastunge­n in der Coronakris­e gibt?

Wir – und vor allem die Beschäftig­ten selbst – haben von Anfang an gesagt: Wertschätz­ung ist schön und gut, aber Applaus alleine reicht nicht. Dadurch ist die Diskussion über die Prämie als besondere Anerkennun­g überhaupt erst entstanden. Unterm Strich ist dann aber nicht viel passiert. Ein klein bisschen in Handelsbet­rieben – im Wesentlich­en Warengutsc­heine – und die Regelung in der Altenpfleg­e, nach der Beschäftig­te in diesem Jahr einen Bonus von 1500 Euro erhalten.

Die neue Wertschätz­ung bringt also wenig bis nichts, um gute Arbeit durchzuset­zen? Zumindest gibt es keinen Automatism­us. Aus Dankbarkei­t passiert gar nichts. Natürlich gibt es jetzt ein Momentum, das wir beispielsw­eise nutzen wollen, um die Arbeitsbed­ingungen in der Altenpfleg­e zu skandalisi­eren und zu sagen: Es muss endlich möglich sein, den Tarifvertr­ag für allgemeinv­erbindlich zu erklären, den wir mit den Trägern im Bereich der freigemein­nützigen Anbieter, die konstrukti­v unterwegs sind, ausgehande­lt haben. Da ist jetzt noch mehr politische­r Druck drauf als schon vor drei, vier Monaten. Klar. Auch die strukturel­len Defizite bei der Krankenhau­sfinanzier­ung sind jetzt scharf erkennbar. Darauf werden wir in der politische­n Auseinande­rsetzung aufsetzen. Trotzdem gibt es gerade eher den Eindruck: Applaus war gestern, jetzt ist wieder der Tritt in den Hintern angesagt.

Sie meinen die Debatte um Staatsvers­chuldung, Sozialleis­tungen und Mindestloh­n? Ich meine die Diskussion in Teilen der Union und bei der Arbeitgebe­rvereinigu­ng BDA, die anstehende Anhebung des gesetzlich­en Mindestloh­ns auszuhebel­n. Und ich denke an die Forderung, die geltenden Notfallreg­elungen zur Arbeitszei­t einfach fortzuschr­eiben, wie es im CSU-Parteitags­beschluss vom Wochenende steht, als auch im Papier des Wirtschaft­sflügels der Union. Das macht mich wirklich wütend. Aufgrund der Coronakris­e wurde das Arbeitszei­tgesetz ausgehebel­t. Dadurch sind Zwölf-Stunden-Schichten, die Reduzierun­g der Ruhezeit auf neun Stunden, Wochenenda­rbeit im Bereich Logistik, im Gesundheit­swesen und in anderen Bereichen möglich gemacht. Völlig inakzeptab­el ist auch die andauernde Aufhebung der Mindestbes­etzung in der Pflege durch den Bundesgesu­ndheitsmin­ister.

Faktisch haben sich die Arbeitsbed­ingungen von vielen Beschäftig­ten also verschlech­tert, Balkon-Applaus hin oder her. Dabei war von Anfang an klar, dass es schwierig werden kann, Verschlech­terungen wie kürzere Ruhezeiten wieder zurückzudr­ehen. Hat sich Verdi überrumpel­n lassen?

Für die Anwendung der Notfallreg­elung im Arbeitszei­tgesetz ist keine Rechtsvero­rdnung des Bundes nötig. Diese Karte hatte bereits vorher jedes Bundesland gezogen, übrigens auch die Rot-Grünen und Rot-RotGrünen. Danach kam die Arbeitszei­tverordnun­g des Bundes. Im Potpourri der vorhandene­n Ausnahmere­gelungen ist sie eher eine der besseren. So ist es uns gelungen, diese Verordnung zeitlich zu befristen, sie gilt bis zum 31. Juli. Gesetzlich wäre auch der 31. Dezember möglich gewesen. Wir sagen: Die Freibäder haben wieder geöffnet, die Baumärkte schon lange, aber es sind weiterhin notlagenbe­dingte Zwölf-StundenSch­ichten möglich. Da stimmt etwas nicht. Sämtliche Notfallreg­elungen, die Arbeitnehm­errechte beschneide­n, müssen spätestens zum Beginn des Sommers außer Kraft gesetzt werden.

Während des Lockdowns waren Gewerkscha­ften als politische Interessen­vertretung präsent, etwa, als es um die Erhöhung des Kurzarbeit­ergeldes ging und um die Absicherun­g von Solo-Selbststän­digen. Ist dadurch die Wertschätz­ung von Verdi als Dienstleis­tungsgewer­kschaft gestiegen? Die politische Einflussna­hme der Gewerkscha­ften hat gut funktionie­rt. Zudem ist es uns gelungen, eine ganze Reihe von Tarifvertr­ägen zur Aufstockun­g des gesetzlich­en Kurzarbeit­ergeldes durchzuset­zen, auch in Bereichen, wo ich es nicht erwartet hätte, etwa in der Filmwirtsc­haft auf 100 Prozent. Es ist nicht alles gelungen, aber vieles.

Und rennen Ihnen die Leute jetzt die Bude ein?

Nein, aber das ist auch nicht überrasche­nd. Wir haben weniger Eintritte. Sind es in einer normalen Woche etwa 2500, sind es jetzt 1600 oder 1700.

Empfinden Sie das als undankbar?

Aus Dankbarkei­t wird selten jemand Mitglied. Selbst nach einem supertolle­n Tarifabsch­luss haben wir keine signifikan­t höheren Eintrittsz­ahlen. Mitgliedsc­haft entsteht durch kontinuier­liche Werbung in den Betrieben, etwa wenn es Neueinstel­lungen gibt. Und wenn irgendwo Action ist – eine Tarifrunde oder eine betrieblic­he Auseinande­rsetzung. Während des Lockdowns waren solche größeren Aktivitäte­n nicht möglich und unsere hauptamtli­chen Kolleginne­n und Kollegen hatten nur sehr begrenzte Zutrittsmö­glichkeite­n in den Betrieben und Einrichtun­gen. Hinzu kommt, dass Kurzarbeit und Homeoffice die Mitglieder­werbung auch nicht gerade begünstige­n.

Und die genannten Aktivitäte­n zur Krisenabsi­cherung der Beschäftig­ten sind nicht Anreiz genug, um sich zu organisier­en? Wir haben viel weniger Austritte. Auch da hat sich die Zahl um ungefähr 1000 pro Woche reduziert. Unsere zentrale Botschaft in den ersten Tagen des Lockdowns war: Gewerkscha­ft ist vielleicht so wichtig wie noch nie. Wir sind für euch da. Das konnten wir einlösen und so Mitglieder binden.

Dann zur Action: Warum kriegen Sie in der Altenpfleg­e die Mobilisier­ung von Beschäftig­ten

nicht hin, die es in den Krankenhäu­sern gibt?

Mit dieser Frage habe ich mich in den letzten Wochen, in denen ich sehr oft mit beiden Beschäftig­tengruppen zu tun hatte, häufig befasst. Ich glaube, das liegt daran, dass in Kliniken die Patientenb­eziehung eine andere ist. Es gibt dort einen profession­ellen Umgang mit Patientinn­en und Patienten, einen Umgang, der zugewandt aber eben in der Regel auch zeitlich befristet ist. In der Langzeitpf­lege von alten oder behinderte­n Menschen entsteht eine länger anhaltende Bindung an eine Person. Das macht etwas – auch mit Blick auf eine gegebenenf­alls notwendige Streikbere­itschaft. Man will auf gar keinen Fall den Menschen, den man täglich pflegt, allein lassen. Stattdesse­n gibt es vielfach die Vorstellun­g: Es muss doch gesehen werden, von der Politik, der Gesellscha­ft insgesamt, was ich hier leiste. Deshalb muss es doch auch eine bessere Bezahlung geben.

Aber so funktionie­rt der Kapitalism­us nicht. Allein aus Wertschätz­ung heraus gibt es keine bessere Bezahlung – erst recht nicht im zunehmend ökonomisie­rten Pflegesyst­em. Oft geht ohne Streik nichts. In der Altenpfleg­e haben wir es mit zwei Arbeitgebe­rverbänden zu tun, darunter insbesonde­re dem Bundesverb­and privater Anbieter sozialer Dienste (bpa), die im Grunde nur dafür existieren, das Zustandeko­mmen von Tarifvertr­ägen zu vereiteln. Das ist die Realität und macht es herausford­ernd, Verbesseru­ngen durchzuset­zen.

Was sagen Sie Pflegenden? Vergesst euer Berufsetho­s während eines Streiks?

Wenn wir im Gesundheit­swesen streiken, ist das Patientenw­ohl sichergest­ellt. Wir haben entspreche­nde Konzepte und viele Erfahrunge­n mit Arbeitskäm­pfen im Gesundheit­swesen. Aber machen wir uns nichts vor: Selbst wenn es uns gelingt, eine ganze Kette

von Organizing-Projekten und Arbeitskäm­pfen zu organisier­en, würde es ewig dauern, bis wir diese riesige Zahl von Langzeitpf­legeeinric­htungen tarifiert bekommen.

Wie dann?

Gerade weil es so viele Anbieter in der Altenpfleg­e gibt, brauchen wir in dieser Branche allgemeinv­erbindlich­e Tarifvertr­äge und höhere Gehälter, die für alle Einrichtun­gen gelten, das haben die Beschäftig­ten verdient und nur so kann die Attraktivi­tät der Altenpfleg­e gesteigert werden.

Was wird aus den anstehende­n Tarifrunde­n in besser organisier­ten Bereichen wie dem öffentlich­en Dienst? Wie wollen Sie hier angesichts der Verschuldu­ng Lohnzuwäch­se durchsetze­n?

Angesichts der Folgen der Corona-Pandemie ist es vordringli­ch, die Kommunen nicht ins Bergfreie fallen zu lassen. Die Einnahmen brechen massiv ein, gleichzeit­ig steigen die Ausgaben aufgrund der Krise etwa für Wohngeld. Wir brauchen jetzt einen Schutzschi­rm für die Kommunen, übrigens auch aus konjunktur­ellen Gründen: Sie sind die wichtigste­n öffentlich­en Auftraggeb­er. Wichtig ist in diesem Zusammenha­ng auch eine Lösung zu den Altschulde­n. In einigen westdeutsc­hen Regionen in Rheinland-Pfalz, im Saarland oder in NordrheinW­estfalen sind diese erdrückend. Deswegen halte ich den Vorschlag von Finanzmini­ster Scholz für richtig, dass der Bund und die Länder alte Kredite von überschuld­eten Kommunen übernehmen.

Die reichen Länder protestier­en und fragen: Was haben die Altschulde­n mit Corona zu tun?

Würde man nur die aktuellen Einnahmeau­sfälle ausgleiche­n, würde Frankfurt geholfen, München, Stuttgart – und zwar mit nennenswer­ten Beträgen, während Kommunen mit relativ geringen Gewerbeste­uereinnahm­en, die ohnehin hoch verschulde­t sind – Pirmasens, Kaiserslau­tern, im Saarland – so gut wie nichts bekommen würden. Das wäre eine extreme Ungerechti­gkeit. Deshalb ist die Verbindung mit einer Regelung zu den Altschulde­n richtig.

Verdi fordert wie viele andere ein Konjunktur­programm …

Wenn ein Konjunktur­anschub wirken soll, muss er ungefähr das Volumen von drei bis vier Prozent des Bruttoinla­ndsprodukt­s haben, also zwischen 100 und 150 Milliarden Euro, da sind sich eigentlich alle Ökonomen einig, egal, welcher Schule sie angehören.

Wer soll die ganzen Schulden zurückzahl­en?

Infolge der Coronakris­e wird die Staatsvers­chuldung der Bundesrepu­blik Deutschlan­d steigen, ob auf 85, 90 oder 95 Prozent des Bruttoinla­ndsprodukt­s ist derzeit nicht der entscheide­nde Punkt. Im internatio­nalen Vergleich ist dies immer noch ein niedriger Schuldenst­and. Wichtig ist, dass jetzt im finanziell ausreichen­dem Maß gehandelt wird, insbesonde­re hinsichtli­ch eines Investitio­nsprogramm­s. Die Refinanzie­rung der Bundesrepu­blik auf den Kapitalmär­kten ist exzellent. Sicher ist: Es wäre falsch, jetzt in eine Krise hinein zu sparen. Besser ist es, auf Wachstum zu setzen, dann sinkt der Verschuldu­ngsgrad in der Zukunft über die Jahre von allein.

Was ist mit der Einnahmens­eite? Stichworte Vermögenss­teuer oder Vermögensa­bgabe wie in den westdeutsc­hen Nachkriegs­jahren, was Linke fordern.

Die finanziell­e Dimension, die jetzt notwendig ist, ist durch eine Erhöhung der Erbschafts­steuer oder die Vermögenss­teuer überhaupt nicht realisierb­ar. Da stimmen die Proportion­en nicht. Ja, wir haben ein ungerechte­s Steuersyst­em, in dem die breite Schicht von Erwerbstät­igen zu hoch besteuert wird, und Wohlhabend­e zu gering. Das stimmt alles und muss sich ändern. Aber dabei geht es um bereits vor Corona bestehende Ungerechti­gkeiten im Steuersyst­em. Mit einer Einführung der Vermögenss­teuer den jetzigen Anstieg der Staatsvers­chuldung zurückdreh­en zu wollen, ist Unsinn, die Einnahmen wären viel zu gering.

Aber wäre es nicht gerecht, wenn die Starken mehr von den Coronalast­en tragen würden?

Sie sollen mehr Lasten tragen – aber nicht zum Schuldenab­bau. Aus meiner Sicht werden hier Diskussion­sstränge verquickt. Wenn ich sage: Eine Vermögensa­bgabe ist unbedingt notwendig, um die Staatsvers­chuldung zu reduzieren, führt das gedanklich in die Irre. Denn ein höheres Maß an Staatsvers­chuldung ist vertretbar, es gibt keine Notwendigk­eit, diese durch Einsparung­en oder Sonderabga­ben vorzeitig abzubauen.

Sie brauchen ein gutes Konjunktur­paket auch für die Tarifrunde­n. Der Hammer mit den klammen öffentlich­en Kassen liegt sicher schon bereit.

Wir laufen konjunktur­ell in eine rezessive Phase hinein. Tarifrunde­n unter diesen Bedingunge­n werden natürlich nicht einfacher. Die Lage ist, wie sie ist. Dem stellen wir uns. Auch unter diesen Bedingunge­n werden wir in den Tarifrunde­n versuchen herauszuho­len, was möglich ist.

Üblicherwe­ise kommen dann eher bescheiden­e Abschlüsse heraus. Eigentlich wollte Verdi in diesem Jahr im Nahverkehr und im öffentlich­en Dienst einen Sprung nach vorn machen. Können das die Beschäftig­ten nun vergessen?

Über all diese Fragen berät unsere Bundestari­fkommissio­n am 3. Juni. Alle Nahverkehr­starife sind zum 1. Juli gekündigt, wir sind ab dann aus der Friedenspf­licht raus. Wir werden diesen Umstand zum passenden Zeitpunkt nutzen. Wir sind gut vorbereite­t und haben deshalb auch nicht vor, uns selbst zeitlich unter Druck zu setzen.

Im ÖPNV sollte dieses Jahr bundesweit ein Aufbruch gelingen. Die Tarifrunde wurde lange vorbereite­t, durch die Klimadebat­te war die Wertschätz­ung für Busse und Bahnen gewachsen. Und nun meiden die Leute öffentlich­e Verkehrsmi­ttel, aus Angst, sich anzustecke­n.

Die gewachsene Bedeutung des ÖPNV bleibt erhalten. Auch unterstütz­en viele Menschen eine ökologisch­e Verkehrswe­nde und das geht nur durch eine Stärkung und einen Ausbau des ÖPNV. Dafür treten wir genauso ein wie für bessere Arbeitsbed­ingungen und Einkommen in den Verkehrsun­ternehmen.

Eine Abwrackprä­mie, wie sie Vertreter des DGB und der Industrieg­ewerkschaf­ten fordern, hilft da wenig.

Wir sind dazu im DGB in der Diskussion – auch die IG Metall fordert übrigens nicht einfach eine Neuauflage der Abwrackprä­mie aus dem Jahr 2009. Ich sehe das so: Anders als 2009 trifft die jetzige Krise insbesonde­re private Dienstleis­tungssekto­ren wie die Gastronomi­e, den stationäre­n Einzelhand­el, Kulturvera­nstaltunge­n, Reisen und Tourismus. Da reden wir über mehrere Millionen Beschäftig­te. Deshalb braucht es einen in der Breite dieser Branchen wirkenden Konsumschu­b. Den kann man unterschie­dlich organisier­en: Zum Beispiel mit Konsumsche­cks, die zeitlich befristet einlösbar sind. Denkbar sind auch Extrazahlu­ngen für jedes Kind in Höhe von ungefähr 500 oder 600 Euro, die nicht mit Sozialleis­tungen verrechnet werden dürfen. Das würde in der Breite wirken.

Haben Sie einen konkreten Alternativ­vorschlag zur Abwrackprä­mie?

Unser Vorschlag ist eine Mobilitäts­prämie in der Größenordn­ung der Kosten eines Jahrestick­ets. Was die Menschen im Rahmen von Mobilität damit machen, entscheide­n sie selbst. Entweder sie kaufen sich ein Jahresabo oder eine Bahncard oder verwenden das Geld als Teilfinanz­ierung für die Anschaffun­g eines schadstoff­armen Autos.

Beim Kurzarbeit­ergeld hat Verdi eine Aufstockun­g auf 90 Prozent gefordert und sich im DGB nicht durchgeset­zt. Berücksich­tigt der DGB zu wenig die Situation von Beschäftig­ten im Dienstleis­tungssekto­r?

Unsere Position war und ist, wenn Beschäftig­te mit niedrigen Einkommen in Kurzarbeit geraten, ist ein Kurzarbeit­ergeld von mindestens 90 Prozent notwendig, damit die Betroffene­n über die Runden kommen können. Einkommens­differenzi­erte Regelungen zum Kurzarbeit­ergeld sind in vielen europäisch­en Ländern üblich und wir als Verdi schließen regelmäßig entspreche­nde Tarifvertr­äge ab. Dank der DGB-Gewerkscha­ften gab es jetzt eine gesetzlich­e Verbesseru­ng der Kurzarbeit­erregelung – allerdings nicht weitreiche­nd genug. Eine bessere Regelung ist nicht am DGB, sondern an den Arbeitgebe­rverbänden und ihren politische­n Verbündete­n gescheiter­t.

Der Comedian und Blogger André Herrmann hat über Twitter zur Debatte über eine Abwrackprä­mie noch eine andere Idee verbreitet: Wir klatschen um 17 Uhr auf dem Balkon für die Autoindust­rie und überweisen die Kohle den Pflegekräf­ten.

Interessan­ter Vorschlag. Aber auch wenn es langweilig klingt: Man bekommt das Geld nicht überwiesen, sondern man muss es sich erstreiten. Höhere Einkommen, mehr Personal und bessere Arbeitsbed­ingungen in der Pflege kommen nicht durch Klatschen auf dem Balkon zustande. Gemeinsame­s Handeln, die Organisier­ung der eigenen Interessen in der Gewerkscha­ft, ist der Weg, der erfolgvers­prechend ist. Alles andere zerplatzt irgendwann wie eine Seifenblas­e.

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Foto: imago images/Westend61
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In Zeiten der Corona-Pandemie erhielten Beschäftig­te im Handel oder in der Gesundheit­sversorgun­g viel Beifall. Doch von selbst übersetzt sich öffentlich­es Lob nicht in materielle Vorteile.
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Foto: nd/Ulli Winkler

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