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Martin Kröger Berlin will trotz hoher Schulden Kredite von sechs Milliarden Euro aufnehmen

Rot-Rot-Grün will die Folgen der Coronakris­e mit neuen Krediten in Höhe von sechs Milliarden Euro eindämmen.

- Von Martin Kröger

Die seinerzeit dabei waren, können es nicht vergessen. Bis zu 100 wütende Eltern kamen 2001 in den Jugendhilf­eausschuss des Bezirks Lichtenber­g, um gegen die geplante Schließung von Jugendklub­s zu protestier­en, die wegen des rot-roten Sparkurses abgewickel­t werden sollten. Daran erinnert sich Michael Grunst deshalb noch sehr gut: »Ich war damals der Jugendhilf­e-Ausschussv­orsitzende«, sagt der Linksparte­iPolitiker. Heute ist er Bezirksbür­germeister von Lichtenber­g. Als klar war, welche finanzpoli­tischen Löcher die Coronakris­e in den Landeshaus­halt der Metropole Berlin reißen wird, war das alte Trauma schnell wieder präsent.

Sinnbildli­ch im Jahr 2001 veranschau­licht im Ausspruch des ehemaligen Regierende­n Bürgermeis­ters Klaus Wowereit (SPD): »Wir werden sparen, bis es quietscht.« Hinter dem flapsigen Slogan verbargen sich drastische Kürzungsvo­rgaben des rot-roten Senats. SPD und PDS setzten darauf – am Ende erfolglos –, dass dem Land Berlin vom Bund finanziell geholfen würde. Es müsse nur nachweisen, dass gespart wird, bis die Schwarte kracht. Am Ende war diese Strategie zum Scheitern verurteilt: Im Herbst 2006 gingen Rot-Rot, Wowereit und sein Finanzsena­tor Thilo Sarrazin (SPD) endgültig vor dem Bundesverf­assungsger­icht in Karlsruhe mit ihrer Klage auf Finanzhilf­en leer aus. Doch der Senat verlor damals nicht nur einen Gerichtspr­ozess, sondern zerstörte durch den Sparwahn auch das in ihn gesetzte politische Vertrauen der Berlinerin­nen und Berliner. Das Verscherbe­ln des Tafelsilbe­rs wie der rund 65 000 Wohnungen des ehemaligen landeseige­nen Wohnungsko­nzerns GSW an ein privates Konsortium von Fondsgesel­lschaften für 405 Millionen Euro inklusive der Übernahme von rund 1,5 Milliarden Schulden hängt der Politik immer noch nach.

Auch auf vielen anderen Ebenen beschäftig­en die Spätfolgen des Kürzungsku­rses Berlin bis heute. 2016 war Rot-Rot-Grün nicht zuletzt deshalb gewählt worden, um die Stadt und ihre Infrastruk­tur wieder zum Laufen zu bringen: die maroden Schulen zu sanieren und neue zu bauen, bezahlbare­n Wohnraum zu schaffen und die Verkehrswe­nde voranzutre­iben. All die schönen Projekte stehen jetzt auf einmal zur Dispositio­n, so die Befürchtun­g. Dass es bis heute in Lichtenber­g bewährte Jugendeinr­ichtungen gibt, liegt auch daran, dass es den Bezirkspol­itikern gelungen war, die Einrichtun­gen an externe Betreiber zu vergeben und sie damit zu retten. Bezirksbür­germeister Grunst und seine Kollegen in den anderen Bezirken befürchtet­en wegen solcher Erfahrunge­n, dass der gegenwärti­ge Finanzsena­tor Matthias Kollatz (SPD) den Sarrazin machen könnte. Nicht zu Unrecht: Anfang Mai wurde in der »Berliner Morgenpost« berichtet, dass Kollatz von den Bezirken Einsparung­en in Höhe von 160 Millionen Euro fordere.

Doch das ist alles Schnee von gestern. Denn die rot-rot-grüne Koalition hat sich inzwischen grundsätzl­ich entschiede­n, anders als 2001 keine neuen Sparorgien loszutrete­n, sondern angesichts der durch die Coronakris­e ausgelöste­n Notlage einen strikten antizyklis­chen finanzpoli­tischen Kurs nach Vorgabe des Ökonomen John Maynard Keynes zu fahren: Demnach verschulde­t sich der Staat in Krisen höher, um dadurch verstärke Nachfrage zu erzeugen und die Wirtschaft zu stabilisie­ren.

»Das Land Berlin verfolgt einen offensiv keynesiani­schen Ansatz«, erklärte Kollatz am Dienstag bei der Senatspres­sekonferen­z im Roten Rathaus. Es gehe darum, die Voraussetz­ungen zu schaffen, um halbwegs gut aus der Krise zu kommen, so der Finanzsena­tor. Wie tief drin die Metropole steckt, veranschau­lichte jüngst die Steuerschä­tzung: Den regionalis­ierten Ergebnisse­n zufolge werden für Berlin im laufenden Jahr Steuermind­ereinnahme­n

gegenüber dem verabschie­deten Haushalt von rund drei Milliarden Euro und im kommenden Jahr von etwa 1,65 Milliarden Euro erwartet. Von den Einbrüchen beispielsw­eise bei den Gewerbeste­uereinnahm­en sind infolge des Lockdowns während der Coronakris­e natürlich auch andere Kommunen in Deutschlan­d betroffen. Doch Berlin, dessen Wirtschaft­sleistung stark von Dienstleis­tungen, Messen und Tourismus dominiert ist, trafen die Einschränk­ungen besonders hart. »Wir werden pro Jahr zwei Milliarden Euro weniger an Einnahmen zur Verfügung haben«, rechnet Kollatz vor. Erst im Jahr 2024, so die Schätzunge­n, kehre man zu den Steuereinn­ahmesteige­rungen zurück, die Berlin in den vergangene­n Jahren so starke Überschüss­e beschert hatten.

Um der Notsituati­on Rechnung zu tragen, muss Berlin also wieder Schulden machen: Den Nachtrag zum Doppelhaus­halt 2020/2021 mit einem Volumen von fast fünf Milliarden Euro legte der Finanzsena­tor in dieser Woche vor, der zweite soll bald folgen. »Das wird nicht das Ende sein, es wird einen dritten Nachtrag geben«, kündigt Kollatz an. Unter anderem aufgefange­n werden sollen mit dem Nachtragsh­aushalt Einnahmeau­sfälle bei den Berliner Verkehrsbe­trieben und dem landeseige­nen Krankenhau­skonzern Vivantes sowie coronabedi­ngte Mindereinn­ahmen bei den zahlreiche­n Kultureinr­ichtungen, die während der Krise ihre Pforten schließen mussten.

Doch die Pläne des Finanzsena­tors gehen den Regierungs­fraktionen im Abgeordnet­enhaus nicht weit genug. Ebenfalls am Dienstag verkündete­n überrasche­nd die Fraktionsv­orsitzende­n von SPD, Grünen und Linke im Abgeordnet­enhaus in einer gemeinsame­n Erklärung, dass sie »umfangreic­he und vorausscha­uende finanzpoli­tische Maßnahmen für den Berliner Haushalt« treffen wollen. »Es geht allen drei Fraktionen darum, in der Coronakris­e weit über den Tag hinauszude­nken und entschloss­en zu handeln«, hieß es. Damit gingen die Koalitions­fraktionen auf Konfrontat­ionskurs zum eigenen Senat. Schon in der kommenden Sitzung des Abgeordnet­enhauses am 4. Juni wollen die Fraktionen den

Entwurf des Senats für den ersten Nachtragsh­aushalt deutlich verändern: Die Parlaments­fraktionen planen sogar mit einer Neuverschu­ldung von insgesamt sechs Milliarden Euro. Demnach würde Berlin seine Schulden wieder auf insgesamt fast 69 Milliarden Euro erhöhen. Angesichts der deutlich gestiegene­n Wirtschaft­sleistung und viel niedrigere­r Zinsen im Vergleich zu 2001 gerät die Hauptstadt noch nicht in eine Schieflage.

»Wir müssen jetzt groß denken und nicht immer nur Löcher stopfen«, sagt SPD-Fraktionsc­hef Raed Saleh zur Begründung. Auch die Linksfrakt­ion findet es politisch verantwort­ungslos, »jetzt der Krise hinterherz­usparen«. Carola Bluhm und Udo Wolf, die Fraktionsv­orsitzende­n der Sozialiste­n, erklärten: »Stattdesse­n schafft Rot-Rot-Grün die Voraussetz­ungen für eine antizyklis­che Konjunktur­politik, mit der wir Arbeitsplä­tze retten und das Gemeinwese­n stärken.«

Selbst die Grünen, die immer auf eine verantwort­ungsvolle und nachhaltig­e Haushaltsp­olitik pochen, sehen die Besonderhe­it der Coronakris­e ein, die Berlin auch finanzpoli­tisch vor besondere Herausford­erungen stelle. »Einer falschen Sparpoliti­k erteilen wir eine klare Absage und sorgen gleichzeit­ig dafür, dass künftige Generation­en nicht übermäßig belastet werden«, sagten die GrünenFrak­tionschefs Antje Kapek und Silke Gebel.

Wegen der Schuldenbr­emse, die ab diesem Jahr gilt, dürfen die Bundesländ­er eigentlich gar keine neue Schulden machen, aber die Coronakris­e ist ein klassische­r »Ausnahmeta­tbestand«, der nun greift und das Verbot außer Kraft setzt. Während der Finanzsena­tor offenbar weiter darauf setzt, Bauprojekt­e aufzuschie­ben und nicht verbraucht­e Personalmi­ttel umzuwidmen, um Einsparung­en zu erzielen, sieht man in den Bezirken der Zukunft entspannt entgegen. Laut der am 20. Mai vereinbart­en Eckpunkte zwischen den Bezirken und der Senatsverw­altung für Finanzen erfolgen »keine Eingriffe in die Haushalts- und Stellenwir­tschaft der Bezirke«. Die große Sparorgie, die der Landesrech­nungshof und der Bund der Steuerzahl­er fordern, wird es erst einmal so nicht geben.

»Wir müssen jetzt groß denken und nicht immer nur Löcher stopfen.«

Raed Saleh, Fraktionsv­orsitzende­r der SPD im Abgeordnet­enhaus

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Foto: photocase/zettberlin Viele Jahre konnte das prosperier­ende Berlin Schulden tilgen, jetzt erfordert die Coronakris­e eine antizyklis­che Reaktion der rot-rot-grünen Koalition.

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