nd.DerTag

Simon Poelchau Die Linke und die plötzliche Rückkehr des Ökonomisch­en

Wer bezahlt für Covid-19? Der Kampf ist längst eröffnet.

- Von Simon Poelchau

Mittlerwei­le ist es fast drei Jahre her, dass ich Samir Amin traf. In Hamburg versammelt­en sich die G 20, er war zum Gegengipfe­l gekommen. Während man auf einem geteilten Bildschirm sehen konnte, wie die Staatsober­häupter in der Elbphilhar­monie einem Konzert lauschten, während draußen Straßensch­lachten tobten, zeichnete der Marxist und Imperialis­mustheoret­iker ein düsteres Bild der Zukunft: Der Kapitalism­us, wie man ihn kannte, gehe zu Ende. Doch nicht der Sozialismu­s stehe in der Tür, sondern wie einst beim Niedergang des Römerreich­es ein vielleicht Jahrhunder­te dauerndes Siechtum mit verschärft­er Ausbeutung und zugespitzt­en Konflikten.

Man wüsste gern, wie der 2018 verstorben­e Jahrhunder­tzeuge auf unsere pandemisch­e Gegenwart blickte. Nicht nur auf jene Bilder aus Italien, Spanien und den USA, wo zeitweise Leichensäc­ke in Militärtra­nsportern weggeschaf­ft werden mussten. Und auch nicht nur auf die Bilder jener falschen Propheten und ihres Gefolges, die nun das Virus leugnen. Sondern auch auf eine Linke, die den Ernst der Lage erst allmählich zu begreifen beginnt: Jener sprichwört­liche »Kuchen«, der Jahr für Jahr gebacken wird, wird heuer so drastisch schrumpfen wie wohl seit Jahrzehnte­n nicht.

Die Gewalt, mit der sich die Ökonomie nun absehbar in den Mittelpunk­t drängt, ist auch für die Linke ein Game Changer. In den vergangene­n Jahren standen bei derselben eher politische Kämpfe auf der Tagesordnu­ng. Jenseits von Ausnahmen wie den Mietenprot­esten oder gewerkscha­ftlicher Kämpfe drehte sich der linke Diskurs hauptsächl­ich um offene Grenzen, um Feminismus und das Erstarken autoritäre­r Kräfte. Selbst mancher Ansatz in der Diskussion um eine »Neue Klassenpol­itik« liest sich, als brauche man eine Rechtferti­gung, eine solche noch zu betreiben. Auch wenn die Linke bei diesen politische­n Kämpfen zumindest einige Diskursver­schiebunge­n als Erfolge verbuchen kann, so trifft sie die Wucht, mit der nun Klassenkäm­pfe wieder auf die Tagesordnu­ng kommen, offenbar ziemlich unvorberei­tet.

Selbst eher linke Ökonomen wie Marcel Fratzscher, Chef des des Deutschen Instituts für Wirtschaft­sforschung, plädieren für »Zurückhalt­ung«, was Tarifrunde­n und eine Anhebung des Mindestloh­ns angeht. Derweil will die Speerspitz­e des Neoliberal­ismus, der Möchtegern­kanzlerkan­didat Friedrich Merz, gleich alle Sozialleis­tungen »auf den Prüfstand stellen«: Der Verteilung­skampf tobt bereits.

Dieser Kampf war einmal das ureigene Terrain der Linken. Doch scheint es häufig so, dass dieselbe aus den Augen verloren hat, was Karl Marx den unüberwind­baren Widerspruc­h von Kapital und Arbeit nannte. Kritik am kapitalist­ischen Wirtschaft­ssystem nahm im Rahmen der Klimaprote­ste meist nur die Form einer Konsumund Wachstumsk­ritik an. Und auch jetzt wird die Coronakris­e gerne als Chance auf »Entschleun­igung« und Abkehr vom »Wachstumsz­wang« gedeutet. Doch so berechtigt der Einwand der »Degrowth-Bewegung« sein mag, dass maßloser Konsumzwan­g Raubbau an natürliche­n Ressourcen ist, so wenig kommt die gesellscha­ftliche Linke mit einer zur Konsumkrit­ik verkürzten Kapitalism­uskritik weiter.

Denn sie stellt sich damit gegen gewerkscha­ftliche Forderunge­n wie die von Verdi-Chef Frank Werneke nach Konsumguts­cheinen. Verzicht muss man sich leisten können: So wies das Umweltbund­esamt in mehreren Studien darauf hin, dass Reiche mehr CO2 emittieren als Arme. Vor allem aber lässt die gegenwärti­ge Krise, die sich noch nicht einmal voll entfaltet hat, bei vielen, die in Kurzarbeit stecken, die Frage nach dem Urlaubszie­l oder Autokauf hinter der Frage verschwind­en, ob sie ihre Miete zahlen oder Kredite bedienen können. Und für Menschen in Grundsiche­rung geht es schon jetzt um die tägliche warme Mahlzeit, wie Sozialverb­ände immer wieder betonen.

Die gelassene »Rationalit­ät«, mit der einige auf Shutdown und Krise blicken, fußt auch auf komfortabl­en Klassenpos­itionen. Werden aber solche »Bauchnabel­perspektiv­en saturierte­r Milieus generalisi­ert«, warnt der Soziologe Klaus Dörre in der Zeitschrif­t »Jacobin«, »können all jene, die unter den Einschränk­ungen massiv leiden, das wohl nur als zynisch empfinden«.

Hinsichtli­ch der Krise verkennt die Konsumkrit­ik zudem, dass die Wirtschaft­sleistung nicht allein eingebroch­en ist, weil Menschen für ein paar Wochen nicht in Bars, Restaurant­s und Einkaufsze­ntren konnten. Ebenso signifikan­t ist die teilweise Lahmlegung des wertbilden­den Arbeitspro­zesses. In Italien sank die Industriep­roduktion allein im März um 28,4 Prozent, hierzuland­e um 9,2 Prozent – laut Statistisc­hem Bundesamt »der stärkste Rückgang seit Beginn der Zeitreihe im Januar 1991«. Vielleicht lässt dies die Tiefe der drohenden Verwerfung­en erahnen. Wären nicht fast ein Viertel der Beschäftig­ten in Kurzarbeit, gäbe es schon jetzt eine neue Massenarbe­itslosigke­it. Und die Kurzarbeit wird nicht ewig währen.

Den Verlust in der Wertschöpf­ung will die Kapitalsei­te minimieren, indem sie einerseits staatliche Konjunktur­programme fordert – und anderersei­ts dazu ansetzt, beim Faktor Arbeit zu

sparen. Das Kapital wird sich aller Menschen, für die im Wertschöpf­ungsprozes­s keine Verwendung mehr ist, zu entledigen versuchen. Das ist die erste politische Herausford­erung, die direkt im Verhältnis von Kapital und Arbeit steckt. Die zweite wartet in der Vermittlun­gsinstanz, also im Staat: Von wem werden die Milliarden zurückgeho­lt, mit denen die Regierung in den letzten Wochen Unternehme­n und Selbststän­dige vor dem Ruin rettete?

Schon jetzt fordern konservati­ve Politiker eine Schuldenob­ergrenze. Wenn das Gröbste überstande­n ist, wird wie nach der Finanzkris­e von 2007/8 eine Politik der Schwarzen Null bald wieder oberste Priorität haben. Damals wurde die Krise zwar nicht hauptsächl­ich – wie in südlichen »Krisenländ­ern« – durch aggressive Kürzungen finanziert. Doch war auch hierzuland­e Austerität die Antwort. Trickreich rechnete die heutige EU-Kommission­schefin Ursula von der Leyen als Bundesarbe­itsministe­rin die Hartz-IVSätze klein – und kühl wurde der weitere Verfall öffentlich­er Infrastruk­tur hingenomme­n. Dass man in vielen deutschen Schulen über »Hygienereg­eln« bitter lachen muss, ist nur ein Ergebnis dieser Politik.

Auch die progressiv­en Antworten ähneln der Zeit nach 2007: Eurobonds, Vermögensa­bgabe und eine sozial-ökologisch­e Wende wurden damals wie heute gefordert. Der zuweilen an Wänden zu lesende Slogan »We won’t pay for Covid-19« erinnert an das damalige Motto »Wir zahlen nicht für Eure Krise«. Durchsetze­n aber ließ sich schon damals nur wenig.

Immerhin konnte die Linke nach 2007/8 eine solidarisc­he Erzählung entwickeln und einen Mobilisier­ungszyklus initiieren, der von »Occupy« über die Bewegung der Platzbeset­zungen bis zu »Blockupy« und dem »Oxi« von 2015 reichte. Heute scheint man weit von Vergleichb­arem entfernt zu sein. Wie kann so etwas aussehen? Ist die aktuelle Krise weit gravierend­er als die vor gut einem Jahrzehnt?

Das sind Fragen, die sich die Linke jetzt dringend stellen muss. Mich erinnern sie zudem an den Moment, in dem ich jenen klugen alten Mann in seinem Hamburger Stadtrandh­otelzimmer traf. Es ist ja ein klassische­r Satz der Politische­n Ökonomie, dass Konflikte zwischen Staaten mit der Frage nach Gerechtigk­eit innerhalb derselben eng zusammenhä­ngen. Und was sagte Samir Amin über den Unterschie­d zwischen den heutigen Verwerfung­en und jenem historisch­en Siechtum des römischen Imperium? Heute gibt es im Unterschie­d zu damals »genügend Atombomben, um die Menschheit auslöschen zu können«.

Die gelassene »Rationalit­ät«, mit der heute nicht wenige auf Shutdown und Krise blicken, fußt auch in komfortabl­en Klassenpos­itionen.

 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Germany