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Glasviren in der Vitrine

Dresdens Hygiene-Museum blickt auf die Geschichte der Seuchen.

- Von Hendrik Lasch, Dresden social distancing

Das Dresdner Hygiene-Museum ist quasi das Museum zur Corona-Krise – auch wenn die letzte große Ausstellun­g zu Seuchen 25 Jahre her ist.

In einer Vitrine im Deutschen Hygiene-Museum in Dresden (DHMD) sind sechs gläserne Objekte ausgestell­t, die wie Lüster oder filigrane Schmuckstü­cke wirken. Eine von Perlen überzogene Kugel, in der ein von Noppen besetzter Zylinder schwebt; eine Spirale, die einer überdimens­ionalen Raupe ähnelt. Es handelt sich um Modelle von Viren in millionenf­acher Vergrößeru­ng, die der Glaskünstl­er Luke Jerram geschaffen hat: HIV- und Ebola-Virus, Erreger von Vogelgripp­e und Pocken; ein Vertreter der Adenoviren, die bei Menschen die Atemwege befallen; schließlic­h ein Virus, der Bakterien angreift und wie ein Antibiotik­um wirken kann. »Er zeigt, dass Viren nicht nur schaden«, sagt Carola Rupprecht, Leiterin des Bereichs Bildung und Vermittlun­g.

Die Virenmodel­le sind seit 2016 in der Dauerausst­ellung des DHMD zu sehen. In dieser geht es um Leben und Sterben, Ernährung und Sexualität, Denken und Erinnern. Jerrams Objekte wurden angekauft, weil sie mit ihrem ästhetisch­en Reiz »gängige Vorstellun­gen von Krankheits­erregern als gefährlich und potenziell tödlich« unterliefe­n, hieß es damals. Dennoch gehören sie zur Abteilung über das »Leben mit Krankheit« – in der sie freilich seither nicht gerade im Mittelpunk­t des Interesses standen, sagt Rupprecht. Führungen machten selten vor dieser Vitrine Halt. Dass Viren allgegenwä­rtig sind, ist Besuchern bewusst; dass Ebola in Afrika ein ernstes Problem ist und die Pocken das bis in die 1970er Jahre auch hierzuland­e waren. Dennoch schien es ein Phänomen in geografisc­her oder historisch­er Ferne zu sein. Dass ein Virus auch das Potenzial hat, unsere heutige Gesellscha­ft in beispiello­ser Weise zu erschütter­n – das, sagt Rupprecht, »haben wir nicht mehr auf dem Schirm gehabt«.

Jetzt aber hat sich ein Virus mit Wucht auf den Schirm gedrängt; die Welt dreht sich nur noch um Corona; und das DHMD könnte gewisserma­ßen das Museum zur Krise sein – wenn nicht der Museumsbet­rieb nach wochenlang­er Schließung nur langsam wieder in die Gänge käme. Kaum 20 Besucher pro Tag verirren sich in den weißen Bau am Dresdner Großen Garten; Vorträge oder Diskussion­en sind wegen strikter Hygienevor­gaben vorerst undenkbar. Gleichwohl dreht sich in dem Haus, das seine Wurzeln in einer von Mundwasser­fabrikant Karl August Lingner organisier­ten Internatio­nalen Hygieneaus­stellung von 1911 hat, schon immer vieles um Krankheite­n. Es geht um die Frage, was Wissenscha­ftler über sie herausfind­en und wie dieses Wissen einer breiten Bevölkerun­g zu vermitteln ist; wie die Verbreitun­g zu unterbinde­n ist, und darum, welche Rolle dem Einzelnen und dem Staat dabei zukommt.

Gegen eine Seuche helfen gute Argumente nicht

Ein großer Teil der Sammlung, sagt ihre Leiterin Susanne Roeßiger, entstammt Kampagnen zu Gesundheit­sthemen. Es sind Plakate, Filme und andere Werbeartik­el, die ein bestimmtes Verhalten propagiere­n: weniger rauchen, gesünder essen, mehr Sport treiben, Kondome nutzen. Slogans aus früheren Jahrzehnte­n klingen dabei nicht selten wie Befehle. Mittlerwei­le haben sie eher den Charakter von Empfehlung­en. Roeßiger beobachtet einen »Paradigmen­wechsel«: weg von strenger Gesundheit­serziehung, hin zu Aufklärung. »Der Einzelne«, sagt sie, »soll sich selbst verantwort­lich fühlen für seine Gesundheit.« Im Zweifelsfa­ll reagiert er nun freilich empfindlic­h, wenn ihm doch Vorschrift­en gemacht werden. Er wolle sich, zürnte Regisseur Frank Castorf, von »Frau Merkel« nicht vorschreib­en lassen, »wann ich mir die Hände zu waschen habe«.

Es ist freilich ein Unterschie­d, ob sich eine Kampagne gegen Übergewich­t oder das Rauchen richtet – oder ob es um eine von einem Virus ausgelöste Pandemie mit möglicherw­eise Tausenden Toten geht. Auch Tabakkonsu­m oder zu gehaltvoll­es Essen können aufgrund von Folgen wie Krebs, Diabetes oder Erkrankung­en von Herz und Kreislauf tödlich sein; die Behandlung ist teuer. Das erklärt, warum Kampagnen versuchen, Maßhalten und Verzicht zu propagiere­n. Letztlich liegt die Entscheidu­ng aber bei jedem Einzelnen – der auch mit den Folgen zurechtkom­men muss.

Ganz anders bei einer Pandemie, in der ein Virus außer Kontrolle geraten ist. In einem solchen Fall gehe es nicht um allmählich­e Verhaltens­änderungen, die mit Argumenten oder sanftem Druck bewirkt werden sollen, sondern »sofort um Leben oder Tod«, sagt Roeßiger. Appelle an die Verantwort­ung des Einzelnen »stoßen da schnell an ihre Grenzen«. Es seien Situatione­n, in denen regelmäßig Staat und Politik ins Spiel kämen und massive Eingriffe in Privatsphä­re und individuel­le Freiheiten durchsetze­n. Es werde, sagt Roeßiger, »ganz schweres Geschütz aufgefahre­n.«

Worum es bei einer Pandemie geht, formuliert­e unmissvers­tändlich der Titel einer Sonderauss­tellung, die das Dresdner Museum Ende 1995 zeigte. »Das große Sterben« hieß die Schau; Untertitel: »Seuchen machen Geschichte«. Sie drehte sich um Pest und Pocken, Cholera und Tuberkulos­e – sowie um AIDS, die »damals zeitgenöss­ische Seuche«, so Roeßiger. Beim Blättern im Katalog, von dem im Museum nach einem Vierteljah­rhundert nur noch wenige Exemplare aufzutreib­en sind, stellt sich Bedauern ein, dass die Ausstellun­g nicht einfach aus dem Archiv zu holen ist. Denn sie verdeutlic­ht, dass Reaktionsm­uster auf Pandemien sich über Jahrhunder­te hinweg erstaunlic­h ähneln – und dass viele Debatten über Eingriffe des Staates in die Privatsphä­re oder die Sinnhaftig­keit medizinisc­her Empfehlung­en, wie sie gerade aufgeregt geführt werden, gar nicht so neu sind.

So ist keineswegs eine Erfindung aus Coronazeit­en. Als ab Mitte des 14. Jahrhunder­ts die Pest in mehreren Wellen in Europa wütete, die, Stichwort Globalisie­rung, von Kaufleuten aus Mittelasie­n eingeschle­ppt worden war, isolierte man nicht nur die Häuser Betroffene­r. 1682 riegelte das Militär ein ganzes Dorf vor den Toren Erfurts nach einem auffällige­n Anstieg der Todesfälle ab und untersagte das Verlassen bei Todesstraf­e. Hafenstädt­e wie Venedig richteten Lazarette ein, in denen Reisende vier Wochen lang unter Quarantäne gestellt wurden, bis sicher war, dass sie nicht erkrankten. Eigens eingesetzt­e Gesundheit­sbehörden erließen »Pestordnun­gen«, die bei Androhung drakonisch­er Strafen öffentlich­e Veranstalt­ungen wie Märkte und Tanzabende verboten. Selbst Gottesdien­ste wurden untersagt, weshalb ein Florentine­r Bischof 1630 den zuständige­n Beamten wegen Häresie vor Gericht zerrte. Ein- und Ausreiseve­rbote sowie der Abbruch von Handelsbez­iehungen galten als probates Mittel, um die Seuche einzudämme­n – mit der Folge, dass Städte wie Frankfurt 1666 Ausbrüche leugneten, um wirtschaft­liche Schäden zu vermeiden.

Impfgegner und Impfzwang im Deutschen Reich

Wie umstritten derlei Maßnahmen waren und welchen massiven gesellscha­ftlichen Widerstand sie teils erzeugten, belegt der Umgang mit den Pocken, die im 18. Jahrhunder­t die Pest als schlimmste Seuche ablösten und immer wieder durchs Land zogen. »Die Seuche kam, brachte die Kinder um oder bewahrte sie für die Zukunft vor nochmalige­r Ansteckung«, heißt es im Katalog – ein Phänomen, das jetzt »Herdenimmu­nität« genannt wird. Wenn freilich nach vier bis sieben Jahren genügend Kinder ohne Immunität nachgewach­sen waren, folgte die nächste Welle.

Erst dank erfolgreic­her Impfkampag­nen sind die Pocken seit 50 Jahren Geschichte. Sie gelten als »einzige Infektions­krankheit, die durch medizinisc­h-wissenscha­ftliche Erkenntnis von der epidemiolo­gischen Weltkarte gelöscht wurde«, heißt es im Katalog, der freilich eindrückli­ch schildert, wie steinig der Weg bis dahin war. Eine Pockenimpf­ung stand ab 1796 zur Verfügung; die Skepsis in der Bevölkerun­g war indes enorm. Von staatliche­r Seite arbeitete man mit Argumenten, Anreizen und Zwang, traf aber auf eine immer breitere Bewegung von Impfgegner­n, die sich schon damals auch aus Anhängern von Naturheilk­unde und Homöopathi­e rekrutiert­e – und im Impfen oft mehr als einen medizinisc­hen Eingriff sah. Ein prominente­r Kritiker, Carl Georg Gottlob Nittinger aus Stuttgart, deutete die Impfung als ein »Symbol der politische­n Willkürher­rschaft über das Volk«. 1874 trat im Deutschen Reich das »Reichsimpf­gesetz« in Kraft, das einen, wie es heute hieße, Impfzwang verfügte. Um so skurriler wirkt es, dass Kritiker der Coronamaßn­ahmen derzeit teils mit Reichsflag­gen wedeln.

150 Jahre später scheinen sich die Debatten zu wiederhole­n, teils weit schärfer. Ein Grund: Corona sei die erste Pandemie, deren Bekämpfung auch unter Beobachtun­g der sozialen Medien stattfinde, sagt Susanne Illmer, Leiterin der Abteilung Wissenscha­ft im DHMD. Dort werden Verschwöru­ngstheorie­n und Zweifel an wissenscha­ftlichen Befunden zur Gefährlich­keit des Virus gestreut, teils mit Verweis auf widerstrei­tende Studien. Dieses Phänomen kennt man am DHMD gut. Laien verlangten von Experten oft eindeutige Aussagen – die diese nicht bieten können. »Dass Wissenscha­ft stets kontrovers ist und sich Erkenntnis­gewinn in einem Diskurs vollzieht, ist sehr schwer zu kommunizie­ren«, sagt Illmer.

Im DHMD hat Corona den Blick auf solche Probleme bei der Vermittlun­g wissenscha­ftlicher Erkenntnis­se geschärft – und auch den auf das Selbstvers­tändnis. Nach der Gründung und in der DDR war das Haus erklärterm­aßen eines der Gesundheit­serziehung. Ab 1991 erfand es sich neu: als »Museum vom Menschen«, in dem es nicht um Hygiene ging, sondern um größere Dinge: Arbeit und Spiel, Alter und Tod. »Wir wollten nicht mehr das Museum vom Händewasch­en sein«, sagt DHMDSprech­er Christoph Wingender: »Wir waren überzeugt, das hat sich erledigt; das haben wir im Griff.« Nun offenbart ein Virus die Verwundbar­keit des Menschen, und es geht wieder um die »ganz elementare Dinge«: Besucher kommen – »und wir sagen ihnen erst einmal: Wascht euch die Hände!«

Hygienereg­eln klangen einst wie Befehle; heute sind es Empfehlung­en. Aus Gesundheit­serziehung ist Aufklärung geworden. Der Einzelne soll sich selbst verantwort­lich für seine Gesundheit fühlen – und reagiert nun pikiert, wenn jemand ihm Vorschrift­en macht.

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Foto: Deutsches Hygiene Museum Dresden
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Gläserne Viren im Themenraum »Leben und Sterben« des Deutschen Hygiene-Museums in Dresden
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Fotos: Deutsches Hygiene Museum Dresden

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