Tote bei Protesten in den USA
Nationalgarde und Polizei schießen auf Demonstrierende
Die Stimmung in den USA ist explosiv. Überall im Land demonstrieren Menschen gegen rassistische Polizeigewalt. Dabei zeigt sich, wie viel Frust sich aufgestaut hat. Präsident Donald Trump will die Proteste zum Anlass nehmen, um gegen die Antifa vorzugehen.
In den USA eskalieren nach dem gewaltsamen Tod des schwarzen US-Amerikaners George Floyd in der vergangenen Woche durch einen weißen Polizisten die Proteste. Nach Angaben des Verteidigungsministeriums wurden insgesamt 5000 Mitglieder der Nationalgarde in 15 Bundesstaaten mobilisiert, darunter in der Hauptstadt Washington. Gegen die Demonstrierenden wurden zunächst Schlagstöcke, Tränengas und Gummigeschosse eingesetzt. Mehrere Menschen starben zudem nach Schießereien mit Polizei und Nationalgarde. Der US-Fernsehsender CNN berichtete von zwei Toten bei Schusswechseln in der Stadt Davenport, die im Bundesstaat Iowa liegt. Der Sender NBC meldete einen Toten bei Protesten in Louisville (Kentucky).
Donald Trump heizte die Stimmung weiter an. Der US-Präsident behauptete, dass »linksextremistische Kräfte« für die Ausschreitungen verantwortlich seien. Er kündigte im Kurznachrichtendienst Twitter an, die »Antifa«-Bewegung auf die Liste terroristischer Organisationen setzen zu lassen. Trump ließ allerdings offen, wie das praktisch funktionieren soll.
Im Weißen Haus hat man sich offenbar darauf geeinigt, die Schuld für die Ausschreitungen unliebsamen Gruppen im eigenen Land und verfeindeten Staaten in die Schuhe schieben zu wollen, um vom eigenen Versagen abzulenken. Der Nationale Sicherheitsberater des Weißen Hauses, Robert O’Brien, machte in Fernsehtalkshows ausländische Staaten verantwortlich. Ihr Ziel sei es, die USA zu schwächen. Hauptverdächtige sollen nach den Worten von O’Brien der Iran, China und Simbabwe sein. Sie würden sich über soziale Netzwerke einmischen, monierte er.
Der designierte Präsidentschaftskandidat der Demokraten, Joe Biden, verurteilte die Gewalt. Er betonte aber auch das Recht auf Demonstrationen gegen Polizeigewalt. »Gegen solche Brutalität zu protestieren, ist richtig und notwendig«, so Biden. Dies rechtfertige aber keine »unnötige Zerstörung«. Der Demokrat besuchte am Sonntag nach eigenen Angaben den Ort eines Anti-Rassismus-Protests im Bundesstaat Delaware. Dabei sei es ihm darum gegangen, den Menschen »zuzuhören«, schrieb der frühere Vizepräsident auf Twitter.
Bernice King, Tochter des 1968 bei einem Attentat ermordeten Bürgerrechtlers Martin Luther King, erinnerte daran, dass es in den USA seit Jahrhunderten Strukturen gebe, die dazu führten, dass Menschen wie Tiere behandelt werden. Die Predigerin bezog sich dabei auf die Geschichte der Sklaverei und Unterdrückung von Schwarzen auf dem amerikanischen Kontinent. King rief via Twitter dazu auf, diese Strukturen zu ändern.
Maurice Moe Mitchell, Chef der sozialistischen Working Families Party (Arbeiterfamilienpartei, WFP), erklärte, dass Wahlen nicht den politischen Protest ersetzen könnten. »Massenproteste entstehen in der Geschichte immer dann, wenn auf offiziellem Wege nichts mehr funktioniert«, sagte er.
Die USA werden nicht nur wegen des Todesfalls erschüttert. Das Land ist ein Zentrum der Corona-Pandemie. Inzwischen sind in den USA mehr als 105 000 Menschen gestorben, die mit dem Virus infiziert waren. Eine Ursache hierfür ist das Gesundheitssystem in den Vereinigten Staaten, das in der Krise offensichtlich heillos überfordert ist.
Hinzu kommt, dass Menschen mit dunkler Hautfarbe noch immer benachteiligt werden. Das belegen Statistiken zum Durchschnittsgehalt oder auch zum Zugang zu medizinischer Versorgung. Nun dürfte die Schere in der Gesellschaft noch weiter auseinandergehen. Denn immer mehr Menschen in den USA sind von Armut bedroht. Der Arbeitsmarkt befindet sich in der schlimmsten Krise seit
Jahrzehnten. Die Wirtschaft schrumpft und Unternehmen entlassen Angestellte. Die USNotenbank teilte kürzlich mit, dass sie nicht mit einer baldigen Besserung rechne und in den nächsten Monaten eine Erwerblosenquote von 20 Prozent und mehr für möglich halte. Bereits vor der Coronakrise waren in den USA rund 37 Millionen Menschen von Hunger bedroht. Die Zahl dürfte weiter ansteigen.
Nicht nur in den USA entlädt sich mittlerweile die Wut über Polizeigewalt und die Politik von Donald Trump. Unter anderem in Kanada, Neuseeland, Deutschland und dem Vereinigten Königreich gingen Menschen auf die Straße. Nach einem Bericht der BBC versammelten sich am Sonntag am Trafalgar Square in London zunächst hunderte Menschen. Sie zogen später mit anderen in einem größeren Protestmarsch zur US-Botschaft. Vor dem Gebäude wurden fünf Demonstrierende von der Polizei festgenommen. Auch in anderen britischen Städten regte sich Protest, dem sich insgesamt Tausende anschlossen.
Im Unterschied zu den Demonstrierenden hielt sich die konservative britische Regierung mit Kritik an den USA zurück. Außenminister Dominic Raab sagte in einem Fernsehinterview, dass der Tod von Floyd »sehr erschütternd« sei. Das gelte aber auch für die Szenen von Plünderungen und Gewalt, die man aus den USA sehe.
In Berlin zogen am Sonntag nach Angaben der Polizei rund 1500 Teilnehmer durch Kreuzberg. Bereits am Samstag hatten etwa 2000 Menschen vor der US-Botschaft in Berlin protestiert. In München beteiligten sich am Samstagabend bis zu 350 Menschen an einem spontanen Demonstrationszug, wie die Polizei am Montag mitteilte.
Die Protestzüge in Berlin verliefen friedlich, auch in München gab es keine Zwischenfälle. Unter den Demonstrierenden in Kreuzberg waren Familien und Kinder. Sie zeigten Plakate mit Slogans wie »I can’t breathe« (»Ich kann nicht atmen«), was Floyd zu den Polizisten gesagt hatte, bevor er das Bewusstsein verlor. Der weiße Polizist Derek Chauvin hatte ihm bei einem Einsatz in Minneapolis im Bundesstaat Minnesota fast neun Minuten lang sein Knie in den Nacken gedrückt.
»Gegen solche Brutalität zu protestieren, ist richtig und notwendig.«
Joe Biden, designierter Präsidentschaftskandidat der Demokraten
Die George-Floyd-Proteste in den USA erinnern an die 60er Jahre, doch manches ist heute anders
Trotz Ausgangssperren und tausender Nationalgardisten im Einsatz gab es am Wochenende überall in den USA Proteste wegen der Ermordung von George Floyd.
Am Sonntag ist es schon der sechste Tag der Proteste in Minneapolis. Hunderte Demonstranten besetzen die Interstate-35-Autobahn im Süden der Stadt, sie wollen weiter Druck auf Stadt, Staat und Politik machen, mehr zu tun nach dem Tod von George Floyd. Sie wollen, dass auch Anklage erhoben wird gegen die anderen drei Polizisten, die nicht eingriffen, als ihr Kollege Derek Chauvin den 46-jährigen Schwarzen zu Tode würgte. Doch sie wollen auch grundsätzlich ein Ende der Polizeibrutalität, die immer wieder besonders Minderheiten in den USA trifft, und sie wollen ein Ende von 400 Jahren Rassismus in den USA. Dafür steht die Parole »400 years«.
Was auf der Interstate 35 passiert, passt zur Situation im Land, zur Unsicherheit, zur Ambivalenz, zum Chaos und den Gerüchten. Ein Tanklaster rast in die Menschenmenge, viel zu schnell, kommt erst mitten unter den Protestierenden zum Stehen, wird wütend von diesen attackiert. Die Behörden sagen später, der Fahrer habe vielleicht nicht gesehen, dass die Autobahn geschlossen gewesen sei. Ein Video des Vorfalls von einer Brücke zeigt einen langen Bremsweg des Lasters, aber auch eine hohe Geschwindigkeit noch 100 Meter vor den Protestierenden. Auf sozialen Medien wird der Vorfall schnell als Attacke auf den Protest gesehen, in anderen Städten kommt es zu Schüssen auf Protestierende. Später wird bekannt, dass der Tanklastfahrer 100 Dollar an Donald Trump und die Republikaner gespendet hat. Der Vorfall passt zu Gerüchten über rechte Milizen und »white supremacists«, die sich vorgeblich unter die Protestierenden mischen, um die Gewalt anzuheizen, um den »Bürgerkrieg« zu bekommen, den sie herbeisehnen.
Und er passt zur Situation in Minneapolis, einer Stadt, in der seit Tagen schon nichts mehr normal ist. Es ist eine Stadt, in der tagsüber friedlich demonstriert wird, in der mit Kreide Parolen und Blumen auf die Straße gemalt werden, in der weiße und schwarze Anwohner zusammen die Scherben der letzten Nacht auffegen und in der in mehreren Nächten in Folge Dutzende Gebäude in Brand gesetzt und die Geschäfte ganzer Straßenzüge geplündert werden. Eine Stadt, in der Ladenbesitzer ihre Geschäfte verbarrikadieren, aber Anwohner auch die Gegengewalt der Proteste nicht immer verdammen wollen und Solidaritätsplakate auf ihre verrammelten Geschäfte pinnen, in der ein indischstämmiger Restaurantbesitzer schreibt: »Geschäfte können wieder aufgebaut werden, Menschenleben aber nicht.« Nach mehreren Tagen Ausschreitungen mit geringer Beamtenpräsenz und der Erstürmung einer Polizeiwache Donnerstagnacht beginnen die Ordnungskräfte ab Freitag, langsam die Kontrolle zurückzugewinnen. Die vom Gouverneur von Minnesota mobilisierte Nationalgarde schützt Freitagnacht zunächst die Feuerwehr, als sich Hunderte Demonstranten der vom Bürgermeister verhängten Ausgangssperre widersetzen.
Am Wochenende wird die Polizeipräsenz immer massiver und auch die Gewalt gegen Protestierende, die auch Journalisten zu spüren bekommen. Tränengas und Gummigeschosse werden von den militarisierten Sicherheitskräften immer wieder ohne Vorwarnung eingesetzt. Sonntagabend nimmt die Polizei in Minneapolis, nachdem sie tagelang vor allem Menschenmassen zerstreut hatte, 150 Protestierende fest.
Ähnliche Szenen spielen sich am Wochenende im ganzen Land ab. Rund ein Dutzend Großstädte verhängt Ausgangssperren, teilweise als Reaktion auf Gewalt in der Vornacht, teilweise um Ausschreitungen zu verhindern. Die Ausgangssperren werden von vielen ignoriert. In 140 Städten kommt es zu Protesten, in Solidarität mit dem Getöteten, auch, weil es George Floyds überall gibt, schwarze Männer, die wegen Nichtigkeiten von Polizisten verdächtigt und kontrolliert, gewalttätig angegriffen und erschossen werden. 1099 Menschen wurden 2019 in den USA laut Angaben der Organisation »Mapping Police Violence« von Polizisten getötet. In 99 Prozent der Fälle kam es nicht zu einer Anklage gegen die Beamten.
Die Wut darüber entlädt sich am Wochenende auch mit ausgebrannten Polizeiwagen, umgestürzten Autos, es kommt in mehreren Städten zu Plünderungen und brennenden Geschäften – auch in Washington DC, in unmittelbarer Nähe des Weißen Hauses. Dessen hellweiße Außenbeleuchtung wird am Sonntagabend abgeschaltet.
Unterdessen versucht US-Präsident Donald Trump offenbar, der einstigen Wiederwahlstrategie von Richard Nixon zu kopieren, der 1969 die Vorurteile und die Angst vor Ausschreitungen in der weißen Mehrheitsbevölkerung schürte. Trump beschwor »Law and Order« und droht mit der »vollen Macht des US-Militärs«. Ob die Taktik aufgeht, ist unklar, denn Bilder der Proteste zeigen auch: Anders als bei den »race riots« der 60er Jahre protestieren dieses Mal Weiße Seite an Seite mit Schwarzen.
Die sich überschlagenden Ereignisse zeigen eine widersprüchliche Realität irgendwo zwischen zaghafter Reform oder deeskalierender politischer PR auf der einen und alten Gewohnheiten und einer militarisierten »cop culture« außer Kontrolle auf der anderen Seite, zwischen Alt und Neu: In Orlando kniet der Polizeichef zusammen mit Demonstranten, während seine Polizeibeamten zur selben Zeit hart gegen Demonstranten vorgehen. In New York City wird die Tochter des progressiven Bürgermeisters Bill de Blasio bei Protesten verhaftet. Ihr Vater verteidigt gleichzeitig einen Polizisten, der mit seinem Polizeivan in eine Gruppe Demonstranten fährt. Und es gibt erste Anzeichen eines Kulturwandels: In Atlanta etwa entlässt die schwarze Bürgermeisterin zwei Polizisten wegen übermäßigen Gewalteinsatzes gegen Protestierende. Und in New York erklären mehrere Politiker, die Spenden von Polizeigewerkschaften zurückgeben zu wollen.
Auch in Minnesota gibt es Bewegung: Gouverneur Tim Waltz gibt die Strafverfolgung im Fall George Floyd an den Generalstaatsanwalt des Bundesstaates Keith Ellison ab. Die Familie von George Floyd hatte sich dafür eingesetzt, dass der schwarze Demokrat und Bernie-Sanders-Unterstützer den Fall übernimmt.
»Leute, ihr wusstet dass das kommen würde, ich habe euch 30 Jahre lang davor gewarnt«.
Rapper ICE T