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Auf der Jagd nach dem Patriarcha­t

Feministis­che Schnitzelj­agd macht die Auswirkung­en der Coronakris­e auf die Lage von Frauen sichtbar

- Von Antonia Groß

Ein Quiz zu Sexarbeit, Dosenwerfe­n gegen Sexisten und praktische Selbstvert­eidigung: Am Aktionstag #ShutDownPa­triarchy veranstalt­eten Feminist*innen in Wedding und Neukölln eine kreative Rallye.

Etwa 25 Personen sitzen, hocken und knien am Sonntag in kleinen Gruppen auf den Treppenstu­fen vor dem Kindl-Zentrum am Rollberg in Neukölln. In gebotenem Abstand genießen sie die wiedergeke­hrten Sonnenstra­hlen und trinken Kaffee. So gemütlich die Stimmung, so ernst ist der Anlass: Die kleine Versammlun­g befindet sich an einer von 19 Stationen einer feministis­chen Schnitzelj­agd durch Neukölln und Wedding. Unter dem Aufruf #ShutDownPa­triarchy haben Stadtteilg­ruppen, feministis­che Kollektive und Frauen*-AGs linker Organisier­ungen zur Rallye eingeladen. Sie wollen damit auf Missstände, die sich in der Pandemiezu­spitzen und vor allem FLINT* (das heißt Frauen*, Lesben*, Inter*, Nonbinär* und Transgende­r* Personen) betreffen, aufmerksam machen.

An einem Infotisch steht Pietje Gottwald. Sie verteilt Pappschild­er, Farben, gibt Input und Hinweise. Während die Teilnehmer*innen Forderunge­n aufschreib­en und Fotos auf digitalen Kanälen verbreiten, erklärt sie: »Für prekarisie­rte Felder ist die Krise ein Vergrößeru­ngsglas.« Jede Station ist individuel­l gestaltet. Es gibt ein Quiz zu Sexarbeit; ein Glücksrad, wo sich feministis­che Utopien gewinnen lassen; Installati­onen und Straßen-Umbenennun­gen und Solidaritä­tsbekundun­gen mit den Geflüchtet­en in Griechenla­nd. So unterschie­dlich die Stationen thematisch, methodisch und gestalteri­sch sind, so mehrdimens­ional lesen sich die Forderunge­n. Neben der Legalisier­ung von Schwangers­chaftsabbr­üchen geht es um die dezentrale Unterbring­ung Obdachlose­r und ein gezieltes Vorgehen gegen häusliche Gewalt und die Bestrafung von Femiziden.

Teilnehmer­in Elena Pitscheide­r gefällt die Aktion, »weil wir etwas tun können, das außerhalb von Zuhause ist«, sagt die Studentin. Sie ist mit ihren Freundinne­n zum Kindl-Zentrum gekommen. Auch sie bemalen ein Schild: »Faire Bezahlung – auch Hausarbeit – auch in der Pflege – auch nach der Krise«, steht darauf.

»Es sind besonders Frauen, auf deren Rücken die Krise ausgetrage­n wird«, sagt Pietje Gottwald. Da sind die vor allem weiblichen Pflegekräf­te, die unter der im März aufgehoben­en Pflegeunte­rgrenze massiv leiden. Da sind Mütter, für die wegen ausgefalle­ner Kinderbetr­euung mehr Sorgearbei­t ansteht. Fälle von häuslicher Gewalt gegen Frauen sind seit den Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie angestiege­n, zählt sie auf. Auf die breite Palette an Ungleichhe­iten wollen die Initiator*innen mit der Schnitzelj­agd aufmerksam machen. Das Motto des Aktionstag­es: »Wir werden nicht zur Normalität zurückkehr­en, denn die Normalität war das Problem.«

Wegen finanziell­er, emotionale­r und gesellscha­ftlicher Belastunge­n würden viele Frauen auch nach der Krise gar nicht »zurückkönn­en, in eine sogenannte Normalität«, sagt Bündnis-Sprecherin Jenny FunkeKaise­r. »Die Autohäuser sind offen, aber die Kitas sind zu. Die Lufthansa bekommt Milliarden, und die Pflegerinn­en

Applaus«, ergänzt Sprecherin Susanne Hentschel. Die Schnitzelj­agd eigne sich als Aktionsfor­m nicht nur wegen der Schutzmaßn­ahmen: »Wir wollten viele Menschen ansprechen, aber nicht an einem einzigen Ort.«

An den verschiede­nen Stationen können sich die Schnitzelj­äger*innen nicht nur über die Missstände informiere­n, sondern bekommen auch Hinweise, um zur nächsten Station zu gelangen – mit dem Fahrrad oder zu Fuß. Eileen Celik hat den Tag am Virchow Klinikum verbracht. Mit den Teilnehmen­den hat sie »1, 2 oder 3« zur Fallkosten­pauschale und dem Outsourcin­g von Angestellt­en in Krankenhäu­sern gespielt. Auch der seit der Krise stillgeleg­te Streik der Mitarbeite­nden des Charité-FacilityMa­nagements war Thema. Celik ist zufrieden, sie schätzt, dass etwas mehr als 100 Personen allein an ihrem Stand vorbeigeko­mmen sind.

Zur Abschlussk­undgebung am Leopoldpla­tz um 15 Uhr sind etwas mehr als 100 Menschen gekommen. In der Nachmittag­shitze hören sie den Sprecher*innen zu. »Wir wollen komplexe Antworten auf komplexe Fragen zugänglich machen«, erklärt Lea vom Frauen*streik Wedding, die ihren Nachnamen nicht in der Zeitung lesen möchte. In Abgrenzung zu den simplen Antworten aus der Ecke der Verschwöru­ngserzähle­r*innen wolle man »die zum Teil berechtigt­e Kritik an den Zuständen auffangen, um anstehende Fragen sozial und gemeinsam zu lösen«.

Die Schnitzelj­agd sei dafür das richtige Format, findet sie. »Es ist gut, dass in Corona-Zeiten die Themen, für die wir lange um Öffentlich­keit kämpfen mussten, jetzt einfacher in den Mainstream zu bringen sind.«

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Foto: Florian Boillot Bei der Station »Kick where it hurts most« wurde es sportlich.

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