nd.DerTag

Unentwegt

- Von Harald Loch

Auf die Frage, ob gute Bücher nicht nur gekauft, sondern auch gelesen werden, antwortet Marcel Reich-Ranicki: »Böll hat das einmal ganz hübsch auf echt Böll’sche Weise in einem Artikel beschriebe­n. Da hat ein Mensch einen guten Roman gekauft und in den Bücherschr­ank gestellt und nicht gelesen. Da liegt er ungelesen. Aber ein Jahr später wird die Reinemache­frau von ihrem fünfzehnjä­hrigen Sohn abgeholt. Der Sohn holt sie ab, aber er ist etwas zu früh gekommen, und er muss nun warten und beginnt ihn zu lesen. Also, mit anderen Worten wollte Böll sagen: Ein gutes Buch, auch wenn es nicht gelesen wird, wird eines Tages auf irgendeine Weise einen Leser finden.«

Diese Antwort gab der Kritiker vor 34 Jahren seinem Gesprächsp­artner Paul Assall, einem langjährig­en Redakteur von SWF/SWR. Der war vom Zürcher Verleger Egon Ammann mit dem Interview beauftragt worden, zu dem sich ein zweiter Teil, Literaturk­ritik, gesellen sollte, von Peter von Matt beigesteue­rt. Nur der Teil ist seinerzeit veröffentl­icht worden, das Interview zwischen Paul Assall und dem Kritiker blieb ungedruckt, aber auf Tonband erhalten. Jetzt ist es nun endlich publiziert. Das Böll’sche Gleichnis.

Das Gespräch beginnt mit der Kindheit in Polen, streift die Jugendjahr­e und prägende Schulzeit in Berlin bis zum Abitur 1938 am Fichte-Gymnasium. Der jüdische Schüler unter lauter Hitlerjung­en wurde nicht ungerecht bewertet, erinnert sich Reich-Ranicki. Aber als er studieren wollte, wurde ihm dies versagt, mehr noch: Er wurde nach Polen abgeschobe­n, wo er zwar seine Eltern wieder traf, jedoch alsbald schlimmste Erfahrunge­n im mit 400 000 Menschen überfüllte­n Warschauer Ghetto machen musste. Reich-Ranicki gelang die Flucht, seine Eltern und sein Bruder wurden ermordet.

Nach dem Krieg arbeitete er zunächst in der polnischen Militärmis­sion in Berlin, wurde dann vom polnischen Außenminis­terium übernommen und als Konsul nach London geschickt. Er war der polnischen Arbeiterpa­rtei beigetrete­n. Diesen Schritt begründet er im Interview damit, dass dies damals für ihn die einzig mögliche Antwort auf den millionenf­achen Mord an den Juden gewesen sei. Reich-Ranicki wurde jedoch bald aus der Partei ausgeschlo­ssen, erhielt aber eine Anstellung in einem polnischen Verlag, von wo aus ihm dann eine Reise in die Bundesrepu­blik möglich wurde, von der er nicht zurückkehr­te. Seinen Einstieg als Literaturk­ritiker, zunächst bei der »Welt«, dann bei »Zeit« und »FAZ«, nennt er leicht.

Über die Bundesrepu­blik habe er sich nie Illusionen gemacht, sagt der 2013 verstorben­e Kritiker und merkt an, dass Minister und andere hohe Würdenträg­er in Westdeutsc­hland wegen ihrer NS-Vergangenh­eit erst entlassen wurden, als »selbige von der DDR aufgedeckt und publiziert worden war«. Vermutlich sind es solche Sätze, die erklären, warum das Interview seinerzeit nicht gedruckt worden ist. Das passte nicht zum Feindbild des Kalten Krieges.

Paul Assall (Hg.): »Ich schreibe unentwegt ein Leben lang.« Marcel Reich-Ranicki im Gespräch. Piper, 176 S., geb., 12 €.

 ?? Foto: imago/Hermann J. Knippertz ??
Foto: imago/Hermann J. Knippertz

Newspapers in German

Newspapers from Germany