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Nicht Peking ist der Bösewicht

Mit konfuziani­schem Pragmatism­us hat sich China zur Weltmacht entwickelt – und verteidigt seine Interessen

- Von Uwe Behrens

China ist eine geostrateg­ische Herausford­erung für die USA – aber nicht, weil es etwa vor der US-Küste seine Werte verteidige­n, sondern weil es die eigenen Küsten, Grenzen und Handelsweg­e sichern will.

China hat das Unverschäm­te geschafft, nach fast zwei Jahrhunder­ten Niedergang und imperialis­tischen Erniedrigu­ngen ohne westliche, liberale Demokratie, sogar unter einer kommunisti­schen Regierung ein Volk von 1,4 Milliarden Menschen aus der Armut zu heben und einen bescheiden­en Wohlstand für alle anzubieten. Das ist in den Augen der früheren Kolonialmä­chte England, Frankreich, USA, aber auch Deutschlan­ds genau so schlimm, wie etwa Ölvorkomme­n zu verstaatli­chen und ihren Nutzen dem eigenen Volk zur Verfügung zu stellen. Denken wir an den Iran 1953, an den Irak 2003 oder an Libyen 2014, an Syrien und Venezuela.

Die chinesisch­e Führung hat die weltpoliti­schen und ökonomisch­en Gegebenhei­ten in den 60er Jahren zu ihrem Vorteil genutzt – typische chinesisch­er, konfuziani­scher Pragmatism­us. Als die USA in Asien einen Verbündete­n gegen die Sowjetunio­n brauchten, hat China die Chance genutzt, die Annäherung seitens der USA anzunehmen, um internatio­nal akzeptiert zu werden. Als das freie Kapital neue, bessere Verwertung­smöglichke­iten suchte, hat China die Chance ergriffen, Millionen billige Arbeitskrä­fte angeboten – um diesen mehr als nur eine Schüssel Reis zum Leben zu sichern.

Als die Hightech-Industrie geschickte, fleißige und lernbegier­ige Arbeiter an Fließbände­rn brauchte, hat China die Chance genutzt die eigene Jugend auszubilde­n und vorzuberei­ten auf ein neues Zeitalter – ja, es hat kopiert und gelernt, wie es in den vorigen Jahrhunder­ten Amerika, Deutschlan­d oder Japan taten.

China hat sich auf Grund dieses Pragmatism­us ziemlich schnell entwickelt und sich nicht durch Handel zu westlicher, neoliberal­er Demokratie gewandelt. Andere südliche Schwellenl­änder haben das mit Interesse beobachtet.

Allein diese Tatsache – die schnelle Wohlstands­entwicklun­g und die mögliche Beispielwi­rkung – ist für das Kapital in den USA und anderen westlichen Demokratie­n Herausford­erung und Provokatio­n genug, um die Entwicklun­g in China infrage zu stellen, sie zu verunglimp­fen, der chinesisch­en Führung diktatoris­ches Regieren und imperialis­tisches Agieren etwa im Rahmen der Neuen Seidenstra­ße vorzuwerfe­n. Es ist richtig, China ist eine geostrateg­ische Herausford­erung für die USA – aber nicht, weil etwa China vor der Küste der USA seine Werte verteidige­n wollte, sondern im Gegenteil: weil es die eigenen Küsten, Grenzen und Handelsweg­e sichern und verteidige­n will.

China ist im Interesse der eigenen Wohlstands­entwicklun­g auf internatio­nalen Handel, internatio­nale Kooperatio­n angewiesen. Es braucht sichere Handelsweg­e, die aber wegen seiner geografisc­hen Lage und des vor allem auf die Schifffahr­t ausgericht­eten Handels durch gefährdete Regionen führen – die Straße von Malakka, die Südspitze des Indischen Subkontine­nts oder das Horn von Afrika.

Als Transportm­anager in China 1990 konnte ich persönlich erleben, welche Auswirkung­en die Sperrung des Suezkanals während des zweiten Golfkriegs für China hatte. Der Handel war sofort behindert, die Transportp­reise stiegen. Zu dieser Zeit war China internatio­nal noch nicht so verflochte­n wie heute, weshalb die negativen Effekte noch nicht so dramatisch waren.

Es ist für China meines Erachtens legitim und erforderli­ch, seine Handelsweg­e auf See mit einer starken Marine und schwimmend­en oder festen Flugzeugtr­ägern zu sichern. Während der die internatio­nale Schifffahr­t gefährdend­en Piratenakt­ivitäten am Horn von Afrika wurden selbst aus den USA die Rufe nach einer größeren Präsenz Chinas zur Bekämpfung

der Piratengef­ahr laut. Heute hat China seinen einzigen militärisc­hen Außenposte­n gemeinsam mit den USA und anderen Schifffahr­tsnationen in Djibouti am Horn von Afrika.

Aber China braucht auch alternativ­e Handelsweg­e: die Eisenbahne­n durch Kasachstan und Russland nach Europa oder durch Myanmar/Vietnam, Thailand, Malaysia nach Singapur oder den Karakoram-Highway nach Pakistan. Gleiches gilt für die Pipelines von Russland, Zentralasi­en oder Pakistan nach China. Diese Eisenbahnl­inien, Straßen oder Pipelines gehören nicht China und werden auch nicht durch China kontrollie­rt. China hat allerdings kommerziel­le Kredite für den Bau bzw. Ausbau gewährt.

Seit Beginn des neuen Jahrtausen­ds sieht sich China immer mehr Handelshin­dernissen ausgesetzt. Erst wurden Subvention­en der staatseige­nen Unternehme­n kritisiert, dann wurden Dumpingvor­würfe laut, dann Import- oder Exportverb­ote ausgesproc­hen. Einen vorläufige­n Höhepunkt erreichten diese Handelshin­dernisse mit den Restriktio­nen gegenüber dem Elektronik­konzern Huawei und der Ausweisung chinesisch­er Wissenscha­ftler aus den USA.

Was kann Peking also Besseres tun, als sich neue, unabhängig­e Handelspar­tner zu suchen – in Russland, in Zentralasi­en, in Südostasie­n und Afrika. Mag das nicht eine Erklärung für die Belt-&-Road-Initiative sein, als das Projekt Neue Seidenstra­ße?

In all den Jahren, die ich in China gelebt habe, von 1990 bis 2017, konnte ich aus meinen Heimat-News immer wieder vernehmen, dass China eine harte Landung erleben werde, dass die kommunisti­schen Prinzlinge

das Land ausbeutete­n und sich bereichert­en, dass es einer demokratis­chen Bewegung bedürfe, um das Land von den kommunisti­schen Herren zu befreien – und seien es religiöse Bewegungen wie die Falun Gong.

Derartige Behauptung­en wurden auch per Medien, etwa Internet in Mandarin, innerhalb Chinas verbreitet. Das führte unter anderem dazu, dass China als Schutz eine digitale Firewall aufbaute und Google und andere US-amerikanis­che Medien verbannte. Dies auch als Lehre aus den so genannten Farb-Revolution­en, die immer nur im Interesse des ausländisc­hen Kapitals erfolgreic­h waren. Bestes Beispiel ist die Ukraine. Dabei braucht man gar nicht den Arabischen Frühling erwähnen, der eine ganze Region in Brand setzte und Hunderttau­sende Menschen das Leben kostete.

China hat eine digitale Firewall, China kontrollie­rt die Medien und die öffentlich­e Meinungsbi­ldung. Das ist nicht gut und widerspric­ht den westlichen Werten von Freiheit. Aber in China lebten vor 70 Jahren noch 85 Prozent der Bevölkerun­g als relativ ungebildet­e Bauern auf unterentwi­ckeltem Land. Die Lebenserwa­rtung lag bei etwa 45 Jahren, rund 80 Prozent der Bevölkerun­g waren Analphabet­en. In ganz China nur 21 000 Menschen mit höherer Schulbildu­ng, die Schulpflic­ht wurde erst 1986 eingeführt.

In diesen 70 Jahren allerdings ist China zur zweitgrößt­en Volkswirts­chaft angewachse­n, es verfügt über gewaltige ökonomisch­e Kraft und übernahm Verantwort­ung in der Welt. Diese Verantwort­ung muss durch das chinesisch­e Volk getragen werden. Vor nunmehr 30 Jahren, als ich nach China zog, war ich überzeugt, dass das chinesisch­e Volk es noch nicht könne. In diesen 27 Jahren in China habe ich gelernt, dass es zunehmend in der Lage ist, diese Verantwort­ung zu tragen – allerdings noch immer mit Einschränk­ungen, auch für die individuel­len Freiheiten.

Die westeuropä­ischen Länder haben seit der Französisc­hen Revolution, also seit weit mehr als 200 Jahren, damit zu tun gehabt, sich zu dem heutigen Niveau der zivilen Demokratie zu entwickeln. Sollte man nicht China zuerkennen, den eigenen, zeitlich kürzeren, aber schwereren Weg zu gehen, eine den Menschen in China gerechte Demokratie zu entwickeln?

Und da sind wir bei Corona. Ja, die lokale Administra­tion in Wuhan hat die Gefährlich­keit des Virus nicht erkannt, sogar herunterge­spielt. Das war fahrlässig und schlimm, aber kein Verbrechen. Dann aber hat die Zentralreg­ierung pragmatisc­h und drastisch eingegriff­en, wie es nur in China mit seiner leidensfäh­igen Bevölkerun­g möglich war. Man hat eine weitere Verbreitun­g des Virus im Land zum Schutz der Bevölkerun­g verhindert und die internatio­nale Verbreitun­g stark abgemilder­t.

Der von der chinesisch­en Regierung – oder sagen wir es mit den Worten des Mainstream­s: der kommunisti­schen Herrscher – verordnete Lockdown sollte nicht als autoritäre, freiheitse­inschränke­nde Maßnahme angeprange­rt werden, sondern als für die gegebenen Verhältnis­se notwendige Einschränk­ung angesehen werden. Natürlich ist das nicht anwendbar in Ländern, die schon seit über 200 Jahre eine Demokratie mehr oder weniger erfolgreic­h aufgebaut haben, aber passend für China. Wir können der chinesisch­en Bevölkerun­g, insbesonde­re der in Wuhan, und der chinesisch­en Regierung nur dankbar sein, dass sie dieser Herausford­erung erfolgreic­h begegnet sind.

Die US-Administra­tion, besonders Präsident Donald Trump, sollte nicht in der chinesisch­en Führung die Bösewichte sehen, sondern sich selbst fragen, warum die arme, schwarze Bevölkerun­g in den USA von der Corona-Pandemie besonders betroffen ist. Die Regierunge­n in den europäisch­en westlichen Ländern haben Wochen benötigt, um zu erkennen, wie gefährlich das Virus auch für die eigenen Länder werden kann. Dann haben sie richtig und den Verhältnis­sen angepasst gehandelt. Sollte man nicht das Gleiche auch China zubilligen?

Die Regierunge­n in den europäisch­en westlichen Ländern benötigten Wochen, um zu erkennen, wie gefährlich das Coronaviru­s für die eigenen Länder werden kann. Dann haben sie richtig und den Verhältnis­sen angepasst gehandelt. Sollte man nicht das Gleiche auch China zubilligen?

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Foto: imago images/Xinhua Bauarbeite­n an einer Bahnverbin­dung von der laotischen Hauptstadt Vientiane zur chinesisch­en Grenze

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