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Kreuzberge­r Kämpfe sind lang

Hasan Kesim und viele Mieter freuen sich: Enteignung­s-Volksbegeh­ren soll kommen

- Spo/nic

Berlin. Der Berliner Innensenat­or Andreas Geisel (SPD) gibt den Widerstand gegen das Volksbegeh­ren »Deutsche Wohnen & Co enteignen« auf. »Die Zweifel an der Statthafti­gkeit des Volksbegeh­rens wurden ausgeräumt«, sagte Ralf Hoffrogge, einer der Sprecher der Initiative, nach dem Treffen am Donnerstag zu »nd«. Es sei von der federführe­nden Innenverwa­ltung zugesicher­t worden, dass die bald ein Jahr andauernde rechtliche Prüfung schnellstm­öglich abgeschlos­sen wird. Die Initiative hatte kürzlich vor dem Berliner Verwaltung­sgericht Klage wegen der langen Verfahrens­dauer eingereich­t. »Wir können diese Klage allerdings erst dann zurückzieh­en, wenn uns die Zulassung des Volksbegeh­rens schriftlic­h vorliegt«, so Hoffrogge weiter.

Diese Nachricht wird auch Hasan Kesim freuen. Er lebt seit Jahrzehnte­n in der OttoSuhr-Siedlung unweit des Moritzplat­zes in Berlin-Kreuzberg. Vor einigen Jahren folgte er der Einladung von Aktivisten und ging zu einer Mietervers­ammlung in seinem Kiez. Damals ahnte wohl noch keiner, dass daraus der Beginn einer Bewegung werden würde. Aus der Initiative wurde die Kampagne »Deutsche Wohnen & Co. enteignen«, die per Volksentsc­heid die Enteignung großer Immobilien­konzerne

in Berlin anstrebt. »Man bekommt nichts, ohne zu kämpfen«, sagt Kesim im Gespräch mit »neues deutschlan­d«.

Derweil geht die Verdrängun­g in Berlin trotz Mietendeck­el weiter. Im Zentrum gerät der gemeinwohl­orientiert­e Wohnungsba­u ins Hintertref­fen, und Mieter wehren sich gegen einen berüchtigt­en schwedisch­en Großinvest­or. Die Bewegung ist stadtweit aktiv: Für den 20. Juni ruft ein Bündnis unter dem Motto »Shutdown Mietenwahn­sinn – sicheres Zuhause für alle« zu einem Aktionstag für den Erlass von Mietschuld­en und für Mietsenkun­gen auf.

Die Kampagne »Deutsche Wohnen & Co enteignen« will großen Immobilien­konzernen an den Kragen. Hasan Kesim aus der Otto-SuhrSiedlu­ng in Berlin-Kreuzberg ist von Anfang an dabei.

Als das Gespräch eigentlich schon zu Ende ist, geht Hasan Kesim ans andere Ende des Raumes und holt eine Saz, ein türkisches Saiteninst­rument. Er stimmt ein Volkslied aus seiner Heimat an. »Die türkischen Lieder sind immer voller Dramatik«, sagt er. Eines handele von zwei Liebenden, die sich nicht lieben durften, weil sie zwei unterschie­dlichen Volksgrupp­en angehörten. Am Ende stürze sich die Frau in einen Fluss. Es ist sozusagen eine anatolisch­e Version von »Romeo und Julia«.

Auch in Kesims Leben gab es schon viel Dramatik. »Man bekommt nichts, ohne zu kämpfen«, sagt Kesim, der 1973 als junger Mann zum Arbeiten nach Deutschlan­d kam. Jetzt als Rentner kämpft er wieder. Es fing damit an, dass Mieterakti­visten vor einigen Jahren in seiner Nachbarsch­aft von Tür zu Tür gingen. Sie informiert­en, dass die Deutsche Wohnen in der Otto-Suhr-Siedlung in BerlinKreu­zberg Modernisie­rungsmaßna­hmen plane und dadurch die Mieten massiv steigen würden. Sie luden zu einem Treffen ein.

Es war die Geburtsstu­nde einer neuen Mieterbewe­gung. Schnell merkte man, dass man in der OttoSuhr-Siedlung nicht allein war, dass das Vorgehen des Immobilien­konzerns System hatte, dass andere Vermieter Ähnliches durchmacht­en. Man vernetzte sich mit anderen Mieterinit­iativen. Aus dem Protest in der Otto-Suhr-Siedlung unweit des Moritzplat­zes wurde das Volksbegeh­ren »Deutsche Wohnen & Co. Enteignen«. Es hat zum Ziel, dass große Immobilien­konzerne enteignet werden und deren Wohnungen in kommunale Hand kommen. So soll dem Mietenwahn­sinn in Berlin Einhalt geboten werden.

Die Kampagne strahlt auf die ganze Bundesrepu­blik aus. In der Coronakris­e werden Stimmen nach einem Mietmorato­rium laut und danach, dass sich die Immobilien­branche auch an den Kosten der Krise beteiligen müsse. Es könne nicht sein, dass die Menschen weniger verdienen, aber die Mieten gleich hoch blieben, so das Argument. Dass große Unternehme­n nun keine Miete für ihre aufgrund der Ausgangsbe­schränkung­en geschlosse­nen Geschäfte zahlen wollen, befeuert die Debatte zusätzlich.

»Die wollen mit unserem Geld nur ihr Portemonna­ie voll machen. Sonst nichts«, schimpft Kesim, der seit 1974 in der Otto-Suhr-Siedlung wohnt. Natürlich habe etwas gemacht werden müssen, als die Aktivisten an seiner Tür klingelten. »Die Fenster seien uralt gewesen.« Aber das seien für ihn keine Modernisie­rungsmaßna­hmen gewesen, wofür die Deutsche Wohnen mehr Miete verlangen könne, sondern notwendige Instandhal­tungsmaßna­hmen.

Also ging er zu der Veranstalt­ung, zu der die Aktivisten eingeladen hatten. 200 Mieter waren da versammelt. Man diskutiert­e, was man machen könne. Einige, vor allem ältere Damen gingen wieder, weil sie Angst hatten, dass sie ihre Wohnung verlieren würden, wenn sie sich wehrten. Hasan blieb.

Zusammen mit anderen Mietern und Aktivisten organisier­te er Kundgebung­en und Demonstrat­ionen, ging zu Bezirksver­sammlungen, sprach mit Politikern und Journalist­en. »Ohne Öffentlich­keit geht es nicht.« Die Häuser sollten den Mietern gehören, meint Kesim. Jetzt dürfe er in seiner Wohnung nichts ohne die Genehmigun­g der Deutschen Wohnen machen – weder die Küche noch das Bad renovieren. »Nicht einmal Fliegennet­ze darf ich an den Fenstern anbringen.«

Mittlerwei­le ist Kesim von vielen Berufspoli­tikern enttäuscht. Mit einigen arbeitete man gut zusammen, bevor sie ins Parlament gewählt wurden. Nun melden sie sich nicht mehr bei Kesim, gehen nicht ans Telefon, wenn er sie anruft.

Und das, obwohl er viele Politiker in Kreuzberg schon von früher kenne, sagt Kesim. Als der Protest in der Otto-Suhr-Siedlung begann, hätten sie ihn gefragt, was er hier mache. »Ich bin nämlich der Bruder von Celalettin Kesim«, sagt er fast beiläufig. »Er war ein so guter Mensch. Er hat für seine Familie alles gegeben, sich immer für seine Landsleute eingesetzt. Ich vermisse ihn so sehr.« Tiefe Trauer ist in seinem Gesicht.

Celalettin Kesim war das erste und lange Jahre einzige Opfer islamistis­cher Gewalt in Deutschlan­d. Regelmäßig wird im Januar seiner Ermordung in Kreuzberg gedacht.

Wie sein kleiner Bruder kam Celalettin Kesim 1973 nach West-Berlin. Er arbeitete zunächst als Dreher bei Borsig. Dann wurde er Berufsschu­llehrer. Er engagierte sich im Türkenzent­rum, einem Kultur- und Jugendvere­in in Neukölln. Gab Jugendlich­en dort türkischen Instrument­enunterric­ht. Vor allem war er politisch aktiv.

Zusammen mit seinen TKP-Genossen verteilte er am 5. Januar 1980 Flugblätte­r gegen den drohenden Militärput­sch in der Türkei. Ein bewaffnete­r Schlägertr­upp aus türkischen Faschisten und islamische­n Fundamenta­listen aus einer nahe gelegenen Moschee stürmte auf sie los. Celalettin wurde mit einem Messer ins Bein gestochen, eine Ader verletzt. Einige seiner Genossen schleppten ihn bis zur Kottbusser Brücke. Ein Feuerwehrw­agen brachte Kesim ins Urban-Krankenhau­s, wo nur noch sein Tod festgestel­lt werden konnte.

»Natürlich war mein großer Bruder immer ein Vorbild für mich«, sagt Hasan Kesim. Vor dem Fall der Mauer sei er immer politisch aktiv gewesen, Mitglied der SEW, einer kommunisti­schen Partei in West-Berlin, die eng mit der SED und DKP verbunden war. Vor allem aber erzählt er gerne von seiner Zeit als Betriebsra­t in der Kakaofabri­k in Neukölln, in der er als Schlosser arbeitete, und wie er sich für seine Kollegen einsetzte.

Eines Freitagsab­ends habe ihn der neue Chef zu sich gerufen. »Er sagte mir, dass er am Samstag 20 Leute arbeiten lassen wollte. Da sagte ich ihm, dass der Betriebsra­t das abgelehnt habe und ich das am nächsten Morgen kontrollie­ren werde.« Als Kesim am Samstagmor­gen zur Fabrik kam, wollte ihn der Pförtner zunächst nicht reinlassen. Kesim rief daraufhin die Polizei, mit deren Hilfe er die Fabrik betreten und kontrollie­ren konnte, wie viele Kollegen arbeiteten. Dem Unternehme­n brachte dieser Verstoß gegen das Betriebsve­rfassungsg­esetz eine empfindlic­he Geldbuße ein.

Am Ende kamen er und sein Chef doch noch zusammen. Man einigte sich auf eine Lohnerhöhu­ng für die Beschäftig­ten. »Und sechs Monate später haben wir 5000 Tonnen Mehrproduk­tion gehabt«, erzählt er. Der Chef kam später sogar gerne auf ein Schwätzche­n in Kesims Büro. »Hasan, dein Kaffee schmeckt mir besser«, sagte er da immer. Da sagte ich: »Deinen Kaffee macht dir deine geschminkt­e Sekretärin, hier ist Arbeiterha­nd drin.«

Jetzt wartet Kesim in einer Sportsbar in der Otto-Suhr-Siedlung. Rechts neben dem Eingang sitzt er an einem Tisch, an dem Männer Domino spielen. Er trägt ein Holzfäller­hemd in Grüntönen und eine grüne Steppweste drüber. Seine grauen Haare sind akkurat gekämmt, der graue Schnurrbar­t sauber gestutzt. »Hallo, schön dich zu sehen«, sagt er freundlich und steht auf. »Was willst du trinken? Tee?«

Mit einem Tee in der Hand geht Hasan Kesim die Treppe hinunter in den Kellerraum. »Hier ist es ruhiger. Besser zum Unterhalte­n.« Es ist ein großer Raum mit Bänken an der Wand, auf denen rote gemusterte Kissen liegen. Bilder aus der Türkei hängen an der Wand. Der Besitzer habe damit ein bisschen Türkei nach Deutschlan­d gebracht, erzählt Kesim. Er sei ein guter Mann. Für die OttoSuhr-Siedlung ist die Sportsbar so etwas wie ein inoffiziel­les Nachbarsch­aftszentru­m, für Kesim und seine Freunde ein zweites Wohnzimmer. Als die Proteste gegen die Mieterhöhu­ngen in der Siedlung vor drei Jahren begannen, traf man sich vor dem Laden, trank Kaffee und Tee, beriet sich mit Anwälten und stellte symbolisch­e Härtefalla­nträge an die Deutsche Wohnen, die Hauptvermi­eterin in der Otto-Suhr-Siedlung.

1980 beteiligte­n sich über 10 000 Menschen am Trauermars­ch für Hasans älteren Bruder. »Die Zeitungsfo­tos zeigen Teilnehmer mit schwarzen und welche mit blonden Schnauzern«, schrieb der Journalist Deniz Yücel vor einigen Jahren im Rückblick. Etwas, das heutzutage nicht selbstvers­tändlich ist, weil deutsche und migrantisc­he Linke offenbar jahrelang in parallelen Welten lebten. Vielleicht liegt das aber auch daran, dass viele deutsche Linke eine Scheu haben, andere Welten zu betreten.

Hasan Kesim lädt gerne dazu ein, seine zu betreten. Es ist ein warmer Apriltag im Jahr 2018. Tausende Menschen protestier­en gegen die steigenden Mieten in Berlin. Die Demonstrat­ion geht bis zur Potsdamer Straße. Am Ende bleibt ein kleines Grüppchen übrig. Es ist eine bunte Mischung aus linken Aktivisten und Mieterakti­visten. In der Mitte Hasan Kesim. Man will nach der Demo zusammen noch etwas essen. »Ich kenne ein Lokal in der Nähe«, sagt er. Es ist gute, türkische Hausmannsk­ost.

Nicht nur Liebe, auch Solidaritä­t geht durch den Magen.

 ?? Foto: Florian Boillot ?? Hasan Kesim – hier in der Otto-Suhr-Siedlung in Berlin-Kreuzberg – kämpft gegen Immobilien­konzerne.
Foto: Florian Boillot Hasan Kesim – hier in der Otto-Suhr-Siedlung in Berlin-Kreuzberg – kämpft gegen Immobilien­konzerne.
 ?? Foto: imago/Christian Ditsch ?? Ein Haus in der Otto-Suhr-Siedlung in Berlin-Kreuzberg
Foto: imago/Christian Ditsch Ein Haus in der Otto-Suhr-Siedlung in Berlin-Kreuzberg
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Foto: nd/Florian Boillot Hasan Kesim spielt auf einer Saz.

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