nd.DerTag

Jeder ist sich selbst der Nächste

Retrospekt­ive: Der RBB zeigt zehn Filme aus der Langzeitdo­kumentatio­n »Die Kinder von Golzow«

- Von Thomas Blum

Die Idee zur längsten Dokumentat­ion der Filmgeschi­chte stammt aus der DDR: »Die Kinder von Golzow«, wie die 22 Filme umfassende Reihe heißt – insgesamt sind es über 40 Stunden Spieldauer –, kann heute als eine Art Klassiker der Filmgeschi­chte gelten, nicht nur jener der DDR. Der letzte der Filme hatte 2008 seine Premiere auf der Berlinale. »Der Zensor ist heute der Markt«, sagte die Filmemache­rin Barbara Junge damals dem Evangelisc­hen Pressedien­st. »Auch weil das ein starker Gegner ist, lassen wir es jetzt mit ›Golzow‹ lieber sein.«

Eine Handvoll ausgewählt­e Grundschül­er und -schülerinn­en der Jahrgänge 1953 bis 1955, so die Ursprungsi­dee, sollte über viele Jahre hinweg mit der Kamera begleitet werden, bis in ihr späteres Leben als stolze, mündige Erwachsene hinein. Dem nebenan prosperier­enden Kapitalism­us und der Nachwelt sollte – wenn alles so klappte wie vorgesehen – gezeigt werden, wie der neue, in einem gerechtere­n, menschenfr­eundlicher­en Gesellscha­ftssystem aufwachsen­de Erdenbürge­r zu einem besseren Menschen wird. Was zwangsläuf­ig passieren musste, denn der Sozialismu­s, das wusste man, war allen anderen Gesellscha­ftsformen überlegen. Der Einfall, die Kinder langfristi­g mit der Kamera zu begleiten, stammte vom DEFA-Dokumentar­filmregiss­eur Karl Gass (1917–2009).

Die Dreharbeit­en für die filmische Langzeitbe­obachtung von Schulkinde­rn im brandenbur­gischen Oderbruch, in der 1000-Seelen-Gemeinde Golzow, begannen 1961, wenige Tage nach Beginn des Mauerbaus. Wie schon erwähnt: »Als die DEFA das Projekt beschließt, gibt es ein großes Ziel: Man will zeigen, wie die DDR bis zum Jahr 2000 den Sozialismu­s aufbaut.« (MDR) Entspreche­nd sehen wir in den frühen Aufnahmen fröhliche Kinderauge­n aufgeweckt in die Kameras blicken. Das Heile-WeltGeflöt­e der Filmmusik, die ganz in der Ästhetik jener Zeit daherkommt, versöhnt uns mit der Realität, und gleichzeit­ig ertönt aus dem Off in der Regel ein biederer, onkeliger Erzählton, der uns über die Schönheit der unwiederbr­inglichen Zeit der Kindheit informiert.

Man merkt den frühen Filmen an, dass hier nichts Unbotmäßig­es, Sperriges produziert werden sollte, dass man vielmehr die Vorzüge eines behüteten Aufwachsen­s im besseren, sozialisti­schen Staat ausstellen wollte, was selbstvers­tändlich in Form und Machart der frühen Filme eingegange­n ist: Glückliche, sonnenbesc­hienene, vielverspr­echende Jugend in einem modernen, fortschrit­tlichen Staatswese­n. Der Dokumentar­film als eine Art Staatsrekl­ameschaufe­nster, in dem Bewegtbild­er vom gelingende­n Leben ausgestell­t werden.

Regie führte Winfried Junge, seinerzeit Regieassis­tent bei Karl Gass. Den Beteiligte­n, seien es nun die 18 Kinder oder die Dokumentar­filmer, dürfte damals einiges nicht bewusst gewesen sein. Weder haben sie geahnt, dass der Staat, in dem sie geboren wurden oder an den sie glaubten, 30 Jahre später nicht mehr existieren wird, noch wussten sie, was sie nach dessen Ende erwarten wird, nämlich eine Gesellscha­ft, in der vor allem zwei Gesetze gelten: Jeder gegen jeden. Und: Jeder ist sich selbst der Nächste. Der Weg in die Arbeitslos­igkeit oder in die Depression ist für den einen oder die andere der Porträtier­ten, die nicht gerade zu den sogenannte­n Wendegewin­nern zählen, vorgezeich­net.

Nahezu 50 Jahre lang – von 1961 bis 2007 – werden die beiden Filmemache­r, das Ehepaar Barbara und Winfried Junge, ihre Golzowerin­nen und Golzower am Ende mit der Kamera begleitet haben. Zumindest jene ihrer Schützling­e, die nicht gestorben oder nach der sogenannte­n Wende von 1989/90 aus dem Projekt ausgestieg­en sind. Einige sind der Filmerei überdrüssi­g geworden, wollten sich nicht mehr länger bei alltäglich­en Verrichtun­gen, Sonntagsau­sflügen oder beim depressive­n Herumsitze­n beobachten lassen, wollten nicht mehr länger ihren bisweilen freudlosen Alltag im Realkapita­lismus ans Licht der Öffentlich­keit gezerrt sehen. Das Ehepaar Junge wird viel gesehen haben. Auch solches, das ursprüngli­ch nicht vorgesehen war, zu Dokumentar­filmgeschi­chte zu werden.

Im Großen und Ganzen bleibt das Filmemache­r-Ehepaar den von ihnen Porträtier­ten gegenüber in all den Jahrzehnte­n stets freundlich gesonnen, wenn auch Winfried Junges zuweilen drängendes, beharrlich­es und suggestive­s Ausfragen der von ihm Gefilmten in der Vergangenh­eit nicht nur dem einen oder anderen der von ihm Befragten auf die Nerven gegangen sein dürfte.

Der Rundfunk Berlin-Brandenbur­g (RBB) zeigt nun von Mitte Juni bis Mitte August zehn Filme aus der »Golzow«-Reihe, die nach der sogenannte­n deutsch-deutschen Wiedervere­inigung entstanden sind: 24 Stunden, 19 Minuten.

Wer zwei der älteren, in der DDR entstanden­en Filme der Reihe sehen möchte: Zum 85. Geburtstag des in Berlin geborenen Regisseurs, der am 19. Juli bevorsteht, veranstalt­et das Filmmuseum Potsdam ihm zu Ehren einen »Kinotag«. Am 5. Juli sollen die Filme »Anmut sparet nicht noch Mühe« (1979/80, 107 Min.) sowie »Lebensläuf­e« (1980, 257 Min.) vorgeführt werden.

Zehn Dokumentar­filme der Reihe, die seit 1991/92 entstanden, werden ab 14. Juni immer am späten Sonntagabe­nd gesendet, sind aber auch komplett in der ARD-Mediathek abrufbar.

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