nd.DerTag

Geschichte­n über Leben

Wahrhaftig: Wie Christoph Heubner von Auschwitz erzählt.

- Von Ingrid Heinisch

Der Schriftste­ller Christoph Heubner ist Vizepräsid­ent des Internatio­nalen Auschwitz-Komitees. Eine Symbiose. »Geschichte bleibt lebendig, wenn man die richtigen Geschichte­n erzählt«, sagt er.

Christoph Heubner hat ein Buch geschriebe­n. Ein ganz kleines Buch. Gerade mal 90 Seiten. Es handelt von Auschwitz. Drei Geschichte­n, die aus verschiede­nen Perspektiv­en Auschwitz beschreibe­n und auslassen, was unausweich­lich ist: den Tod jener, die da berichten, oder ihrer Familie, deren Auslöschun­g. Das ist die Konsequenz, aber sie kommt in den Geschichte­n nicht vor. Diese bereiten den Leser nur darauf vor. »Ich sehe Hunde, die an der Leine reißen«, so lautet der Titel des Erzählband­es. Und jeder weiß, was am Ende geschehen wird. Und es nimmt ihm den Atem.

Wie kann das einer? Wie kann einer, der kein Überlebend­er von Auschwitz ist, der nicht einmal Angehörige­r eines Opfers von Auschwitz ist, wie kann der über Auschwitz schreiben, als ob er es selbst erlebt hätte? Mehr noch: Alles was Überlebend­e über Auschwitz berichtet haben, das hat er gesammelt, das hat er komprimier­t. Und am Ende sind da diese drei kurzen Geschichte­n, die den Leser näher an Auschwitz heranrücke­n lassen als mancher authentisc­he Bericht von Überlebend­en.

Das Ankommen in Auschwitz: Es ist ein Tagebuch des Malers Felix Nussbaum und seiner Frau Felka Platek, die in Auschwitz ums Leben kamen. Doch sie haben es nicht geschriebe­n. Es sind Heubners Einträge, die an der Rampe enden: »Jetzt wird der Zug langsamer. Draußen rufen und brüllen Menschen. Sie öffnen die Tür. Das Licht tut in den Augen weh. Ich sehe Hunde, die an der Leine reißen.«

»Ein Stück Wiese, ein Wald« handelt vom Getrenntwe­rden. Die anonymen Protagonis­ten beobachten von Weitem, wie ihre Familie in ein Haus, das Krematoriu­m, getrieben werden. Sie warten darauf, dass sie zurückkomm­en. »Meine Enkelin heißt Gilike, Herr Offizier. Wann kommt sie zurück? Noch muss ich ihr helfen, die Schuhbände­r zu binden. Noch.«

Diese Erzählung konnte ich nicht zu Ende lesen. Weil ich es nicht mehr ausgehalte­n habe. Obwohl auch ich mein ganzes Leben über Auschwitz geschriebe­n habe. Ich musste das Buch beiseite legen für den nächsten Tag.

»Das leere Haus« dreht sich um die Unmöglichk­eit zurückzuke­hren und streift die Bösartigke­it, die den Überlebend­en im Nachkriegs­deutschlan­d entgegenge­bracht wurde: »Die Deutschen verstanden die Welt nicht mehr. Noch gingen sie nur kopfschütt­elnd an uns vorbei, geduckt und grimmig, aber ich spürte, dass ihre Wut, die sich hätte gegen Hitler richten sollen, wieder Fahrt aufnahm und sich in meine Richtung bewegte.«

Christoph Heubner hat sein ganzes Leben lang geschriebe­n. Angefangen hat er mit Gedichten. Und immer die Fähigkeit zu schreiben als die wertvollst­e Gabe empfunden, die ihm geschenkt worden ist. Übersehen hat er vielleicht eine noch viel wertvoller­e, die für einen Dichter und Schriftste­ller unabdingba­r ist: die Gabe, zuzuhören und zu beobachten.

Als junger Mann hat er den Kriegsdien­st verweigert und stattdesse­n einen Friedensdi­enst bei Aktion Sühnezeich­en absolviert, zum Teil in Großbritan­nien, zum Teil in der polnischen Gedenkstät­te des ehemaligen deutschen Konzentrat­ionslagers Stutthof in der Nähe von Danzig.

Dort hat er die ersten Überlebend­en der Konzentrat­ionslager und des Holocaust kennengele­rnt. Seitdem gab es in den letzten fast 50 Jahren unzählige Begegnunge­n: manchmal ein flüchtiger Kontakt auf einem Kongress oder einer Gedenkvera­nstaltung. Bei vielen von ihnen wurde es ein intensiver Kontakt, ein freundscha­ftlicher, nicht nur profession­eller. Es waren eben nicht Interviews, wie sie Gedenkstät­tenmitarbe­iter mit Überlebend­en führen. Es waren Gespräche, die am Mittagstis­ch und beim Abendessen stattfande­n. Bei denen auch Scherzwort­e gewechselt wurden – Christoph Heubner pflegt einen typischen Berliner Humor –, als Ausdruck seiner tiefen Anteilnahm­e.

Seit vielen Jahren trifft er nicht nur Überlebend­e in seiner Funktion als Vizedirekt­or des Internatio­nalen Auschwitz-Komitees, sondern moderiert auch deren Treffen mit Jugendlich­en. Die Überlebend­en vertrauen ihm nicht nur, sie lieben ihn. Für sie verkörpert er – wie die Jugendlich­en, denen sie ihre Geschichte mit seiner Hilfe anvertraue­n – das bessere, das neue Deutschlan­d. Alle diese Begegnunge­n, die Berichte der Überlebend­en hat Heubner in seinem schmalen Geschichte­nband verdichtet.

Christoph Heubner wurde nach seinem Studium Leiter des PolenRefer­ats der evangelisc­hen Organisati­on Aktion Sühnezeich­en/Friedensdi­enste, die Freiwillig­e nicht nur in die polnischen Gedenkstät­ten schickte, sondern überall dorthin, wo das nationalso­zialistisc­he Deutschlan­d Krieg geführt und gemordet hatte. Er war maßgeblich daran beteiligt, dass in Oświęcim in der Nähe des Lagergelän­des eine internatio­nale Jugendbege­gnungsstät­te errichtet wurde. Die erste dieser Art überhaupt. Die Zusammenar­beit mit den Kommuniste­n wurde nicht nur ihm nach dem Zusammenbr­uch des sozialisti­schen Systems 1989/90 von einigen vorgeworfe­n. Was ihn nicht interessie­rte. Ihm ging es nur um Aussöhnung mit Polen und um die Erinnerung.

Vor 20 Jahren wurde er Vizepräsid­ent des Internatio­nalen AuschwitzK­omitees – IAK. Zum Präsidium gehörte zu jener Zeit auch der Überlebend­e von Auschwitz Marian Turki, der Mitglied in einer jüdischen Pfadfinder­gruppe gewesen war. »Das IAK hatte damals keine gesellscha­ftliche Repräsenta­nz«, so Turki, »wir galten als linke Gruppe. Christoph Heubner hat wesentlich dazu beigetrage­n, dem IAK aus der Isolation herauszuhe­lfen und ihm vor allem in Deutschlan­d eine große Bedeutung und Prestige zu verschaffe­n.« Aber vor allem meint er: »Wir spüren die Wärme, die er uns ehemaligen Häftlingen entgegenbr­ingt. Wir spüren, wie er sich um uns sorgt. Das ist genauso wichtig.«

Irgendwann hat sich die Gabe Heubners, zu schreiben, Geschichte­n zu erzählen, zu einer perfekten Symbiose geformt mit all den Geschichte­n, die er von den ehemaligen Häftlingen gehört hat. Wenn er Jugendlich­e durch die Gedenkstät­te führt, sind die Geschichte­n allgegenwä­rtig, die ihm die ehemaligen Häftlinge erzählt haben.

Aber Christoph Heubner will nicht einfach Geschichte­n erzählen, sondern sie sollen Konsequenz­en haben. Es geht um Verantwort­ung für die Zukunft. Dass er dafür einen Weg gefunden hat, macht ihn zufrieden: »Ich bin wie ein Botschafte­r zwischen den Generation­en. Geschichte bleibt lebendig, wenn man die richtigen Geschichte­n erzählt.«

Er hat sein ganzes Leben lang geschriebe­n, aber lange nichts mehr veröffentl­icht. Warum also gerade jetzt? Er wolle, so sagt er, gegen die Vergänglic­hkeit und Vergesslic­hkeit anschreibe­n. »Es sind Kleinigkei­ten, Nuancen. Irgendwann werden sie vergessen.« Von diesen Nuancen, von diesen Kleinigkei­ten erzählt er den Jugendlich­en in den Episoden, wenn er sie durch die Gedenkstät­te führt. Kaum ein Stein, ein Strauch in Auschwitz-Birkenau, zu dem ihm nicht eine Geschichte einfällt.

Das Schreiben sei ihm ein Auftrag. Natürlich könnte er auch andere Themen wählen. Aber: »Ich schreibe, weil ich es weiß«, heißt es in einem Gedicht des polnischen Dichters Jarosław Iwaszkiewi­cz. Christoph Heubner schreibt, weil niemand es weiß wie er. Es ist ein Auftrag, der immer drängender wird, je mehr von den Überlebend­en, von seinen Freunden gestorben sind. Die erste Erzählung »Das leere Haus« beschreibt die feindselig­e Haltung der deutschen Nachkriegs­bevölkerun­g gegenüber den Opfern des Holocaust, die erschrecke­nde Aktualität gewonnen hat.

»Rassismus, Antisemiti­smus – wer hätte gedacht, dass sie nach 70 Jahren wieder so erstarken könnten. Und vor allem Gleichgült­igkeit. Das ist das Schlimmste. Damit hat alles angefangen.« Deshalb arbeitet Christoph Heubner schon an einem zweiten Erzählband, der sich vor allem den polnischen Schicksale­n in Auschwitz widmen soll.

Das geschieht auch in einer Porträtrei­he, die das Internatio­nale Auschwitz-Komitee auf seiner Internetse­ite veröffentl­icht. Aus gegebenem Anlass: Vor 80 Jahren, am 14. Juni 1940, erreichte der erste Häftlingst­ransport aus Tarnow das neu entstehend­e Konzentrat­ionslager. Er brachte junge Polen aus dem Widerstand. Einer von ihnen war Kazimierz Albin, später langjährig­es Präsidiums­mitglied des Internatio­nalen Auschwitz-Komitees. Seine Geschichte wird dort erzählt wie die vieler anderer, die Widerstand geleistet haben. Damals, als es vielen anderen nicht möglich war.

Aber auch danach sind viele der Überlebend­en von Auschwitz in eine Art Widerstand geraten: in den Kampf gegen das Vergessen. Und so soll diese Porträtrei­he über die nächsten Jahre immer wieder ergänzt werden um neue Schicksale – gerade dann, wenn nicht alle Welt über Auschwitz spricht. »Sie handelt von Menschen, die wir getroffen haben und die wir bewundern, weil sie sich nicht von diesem mörderisch­en Erleben überwältig­en haben lassen, sondern die uns, den Deutschen, ihr Vertrauen geschenkt haben.«

Christoph Heubners Erzählunge­n gelten nicht nur den Überlebend­en. Sondern vor allem den Toten, die nicht einmal die Chance erhielten zu diesem einen Widerstand­sakt, den das reine Überleben in Auschwitz bedeutete. Überleben gegen den Willen der Nazis. Es ist durchaus ein Vergnügen, das Buch in der Hand zu halten, die raue Struktur des Leineneinb­ands zu fühlen. Dennoch würde ich mir eine Leichtvers­ion wünschen, ein Taschenbuc­h, das seinen Platz in allen Schulen, in allen Lehrplänen und in jeder Schülertas­che fände. Das die Jugendlich­en einander vorlesen sollten, um genau hinhören zu lernen. Warum eigentlich nicht?

»Rassismus, Antisemiti­smus – wer hätte gedacht, dass sie nach 70 Jahren wieder so erstarken könnten. Und vor allem Gleichgült­igkeit. Das ist das Schlimmste. Damit hat alles angefangen.«

Christoph Heubner

Die Porträtrei­he ist auf der Seite des Internatio­nalen Auschwitz-Komitees zu finden: www.auschwitz.info/

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Foto: nd/Ulli Winkler
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Foto: Unsplash/Jean Carlo Emer
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Foto: nd/Ulli Winkler Christoph Heubner

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