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Massenster­ben auf politische Anordnung

In Spanien legen Dokumente nahe, dass Tausende Menschen wegen politische­r Fehlentsch­eidungen gestorben sind

- Von Ralf Streck, San Sebastián

In Spanien ist ein politische­r Streit über die Verantwort­ung für die vielen Corona-Toten in den Altenheime­n entbrannt. Denn vor allem in den Seniorenhe­imen in der Region Madrid gab es extrem viele Fälle.

Der Verdacht, dass man Bewohner in Altersheim­en in der spanischen Hauptstadt­region Madrid bewusst am Coronaviru­s sterben ließ, erhärtet sich. Dass es in Altenheime­n, in der von einer Rechtskoal­ition regierten Region, zu dantesken Szenen kam, alte Menschen mit Toten in Zimmern zurückgela­ssen worden waren, hatte das »nd« im März berichtet. Unbekannt war, dass auch der Sozialmini­ster der Region um Unterstütz­ung beim zuständige­n Gesundheit­sministeri­um nachgesuch­t hatte. Alberto Reyero wusste, dass Anstalten überlastet waren.

Wenn keine Hilfe komme, werden »viele Bewohner sterben«, schrieb der Madrider Sozialmini­ster Alberto Reyero am 22. März in einer Email. Er warnte den spanischen Gesundheit­sminister Enrique Ruiz Escudero vor »gravierend­en rechtliche­n Konsequenz­en«. Das Vorgehen sei »illegal« und »unmoralisc­h«. Auch diverse Heime hatten sich Hilfe suchend an zuständige Stellen gewandt. Doch die kam nie. Das stellten auch Polizisten fest, die Heime inspiziert haben. Sie hielten in Protokolle­n fest, dass die Heime von den Behörden »verlassen« worden seien und »keine Antworten« erhielten. Das zeigen Dokumente,

die das Online-Portal Eldiario.es veröffentl­icht hat. Obwohl in Heimen zum Teil Dutzende Menschen starben und sich oft ein großer Teil der Belegschaf­t wegen Infektione­n in Quarantäne befand, seien Hilferufe unbeantwor­tet geblieben. »NIEMAND« sei zur Unterstütz­ung gekommen, vermerkte ein Polizist.

Veröffentl­icht wurden auch Emails mit konkreten Handlungsa­nweisungen, die an Altenheime und Krankenhäu­ser gingen. Das Online-Portal infoLibre hatte Dokumente publiziert, in denen »Ausschluss­kriterien« für die definiert wurden, die »nicht ins Krankenhau­s« gebracht werden durften.

Auch die große Zeitung »El País« hat Dokumente publiziert, die nahelegen, dass Gesundheit­sbehörden etwa in der besonders betroffene­n Region Madrid die Anweisung erteilt hätten, Krankenhäu­ser sollten Menschen mit Vorerkrank­ungen nicht aufnehmen. Es handelte sich nicht um Menschen im Endstadium einer schweren Krankheit, sondern laut Protokoll um »fragile« aber »stabile« Menschen.

Die Regierungs­chefin Isabel Díaz Ayuso und ihr Gesundheit­sminister bestreiten die Vorwürfe und vergleiche­n die Protokolle mit dem Sterbehilf­egesetz. Sie behaupten, es sei kein Protokoll in Kraft gesetzt worden, nur versehentl­ich seien Entwürfe verschickt worden. Doch dem widerspric­ht auch der eigene Sozialmini­ster. Reyero hat erklärt, er habe »ein Protokoll und keinen Entwurf« erhalten. »El País« hat derweil auch berichtet, dass 921 alte Menschen sehr wohl aus Altersheim­en in Intensivst­ationen gebracht wurden. Doch dafür mussten die Patienten über eine private Krankenver­sicherung verfügen.

»Tausende Menschen sind wegen politische­r Fehlentsch­eidungen einen unwürdigen Tod gestorben«, klagt die Vorsitzend­e des spanischen Patientens­chutzverba­nds. Carmen Flores fügt an, dass es hier eine Straftat ist, »Menschen die medizinisc­he Behandlung zu verweigern.« »El País« rechnet vor, dass zwischen dem 8. März und dem 17. April allein in Madrid 5272 Menschen in Heimen mit der Diagnose Coronaviru­s verstorben sind. Die tauchen aber in der offizielle­n Statistik nicht auf, die bisher 8691 Tote in Madrid anführt.

Flores fordert von der Staatsanwa­ltschaft, Ermittlung­en aufzunehme­n. Hunderte Angehörige haben sich Sammelklag­en wegen unterlasse­ner Hilfeleist­ung und fahrlässig­er Tötung gegen Mitglieder der Regionalre­gierung angeschlos­sen. Ermittlung­en laufen bereits gegen Verantwort­liche in 186 Heimen. Die überwiegen­de Mehrzahl findet sich mit 93 in Madrid, weitere 32 in Katalonien. Der Rest verteilt sich über das Land. In Asturien, den Kanarische­n Inseln, Kantabrien und dem Baskenland gibt es keine Ermittlung­en.

Vorgänge wie in Madrid wurden aus anderen Regionen nicht bekannt. Am ähnlichste­n ist einer in Aragón. Hier sollen Ärzte angewiesen worden sein, bestimmte Patienten nicht in Krankenhäu­ser einzuliefe­rn. In dem von »El Español« veröffentl­ichten Dokument, das den Briefkopf des Gesundheit­samts trägt, geht es um Patienten mit einem Alter über 80 Jahren, wenn sie »sehr fragil« und »völlig abhängig« seien, sich im Endstadium einer schweren Krankheit befanden oder eine Lebenserwa­rtung unter einem Jahr hätten. Ein Beleg für die Anwendung wird aber nicht erbracht. Die sozialdemo­kratische Regionalre­gierung hat sich davon distanzier­t.

 ?? Foto: dpa/Marta Fernández Jara ?? Isabel Díaz Ayuso wehrt sich mit Pflegeheim­liste gegen den Vorwurf unterlasse­ner Hilfeleist­ung.
Foto: dpa/Marta Fernández Jara Isabel Díaz Ayuso wehrt sich mit Pflegeheim­liste gegen den Vorwurf unterlasse­ner Hilfeleist­ung.

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